Die Renaissance der Offenbarungsreligion beruft sich mit Vorliebe auf den Begriff der Bindungen, die notwendig seien: man wählt gleichsam aus prekärer Autonomie das Heteronome. Aber in der Gegenwart gibt es, aller Profanität zum Trotz, eher zuviel Bindungen als zuwenig. Die Zusammenballung der ökonomischen und damit der politischen und administrativen Mächte setzt jeden Einzelnen in weitem Maß zum bloßen Funktionär des Getriebes herab. Die Individuen sind vermutlich weit mehr gebunden als in der Ära des Hochliberalismus, in der sie nach Bindungen noch nicht verlangten. Ihr Bedürfnis nach Bindungen ist daher zunehmend eines nach geistiger Verdoppelung und Rechtfertigung ohnehin schon vorhandener Autorität. Die Rede von der transzendentalen Obdachlosigkeit, die einmal die Not des Individuums in der individualistischen Gesellschaft aussprach, ist zur Ideologie geworden, zur Ausrede für den schlechten Kollektivismus, der sich, solange gerade kein autoritärer Staat zur Verfügung steht, auf andere Institutionen mit überpersonalem Anspruch stützt. Das ins Ungemessene anwachsende Mißverhältnis zwischen gesellschaftlicher Macht und gesellschaftlicher Ohnmacht setzt sich fort in der Schwächung der inneren Zusammensetzung des Ichs, daß es schon nicht mehr aushält, ohne sich mit eben dem zu identifizieren, was es zur Ohnmacht verdammt. Nach Bindungen sucht nur die Schwäche; der Drang danach, der sich selbst verklärt, als ob er der Beschränktheit des Egoismus, des bloßen Einzelinteresses sich entäußerte, ist in Wahrheit nicht aufs Menschenwürdige gerichtet, sondern kapituliert vorm Menschenunwürdigen. Dahinter steht der freilich gesellschaftlich notwendige und mit allen erdenklichen Mitteln verstärkte Schein, daß das Subjekt, daß die Menschen unfähig seien zur Menschheit: die verzweifelte Fetischisierung bestehender Verhältnisse. Das religiöse Motiv von der Verderbtheit des Menschengeschlechts seit dem adamitischen Fall tritt aufs neue, wie schon einst bei Hobbes radikal säkularisiert, entstellt in den Dienst des Schlechten selber. Weil den Menschen die Einrichtung einer gerechten Ordnung unmöglich sei, wird die bestehende ungerechte ihnen empfohlen. Was einmal Thomas Mann gegen Spengler »Defaitismus der Humanität« nannte, hat sich universal ausgebreitet. Die Wendung zur Transzendenz fungiert als Deckbild immanenter, gesellschaftlicher Hoffnungslosigkeit. Nicht äußerlich ist ihr die Bereitschaft, die Welt so zu lassen, wie sie ist, weil sie als Welt nicht anders sein könne. Das real bestimmende Modell dieser Verhaltensweise ist die Aufteilung der Welt in zwei unmäßige, starr einander entgegengesetzte und sich gegenseitig, und jeden Einzelnen, mit dem Untergang bedrohende Blöcke. Die höchst innerweltliche Angst davor wird, weil nichts sichtbar ist, was darüber hinausführte, als existentielle oder womöglich transzendente hypostasiert. Die Siege, welche die Offenbarungsreligion im Namen solcher Angst erficht, sind Pyrrhussiege. Wird Religion um eines ändern als ihres eigenen Wahrheitsgehalts willen angenommen, so unterminiert sie sich. Daß darauf neuerdings die positiven Religionen so willig sich einlassen und womöglich mit anderen öffentlichen Institutionen wetteifern, bezeugt bloß die Verzweiflung, die latent ihrer eigenen Positivität innewohnt.
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