HWPh

Kritik (10)

Sur l´eau 2008. 6. 3. 13:55

     6. 20. Jahrhundert. – Unter den philosophischen Ansätzen der zwanziger Jahre stellt E. GRISEBACH «K.» («kritisches Denken») nicht nur dem idealistischen Dogmatismus, sondern auch verkappten Absolutheitsansprüchen im existentiellen Denken so entgegen, daß sich das Problem der endlichen Wirklichkeit des Menschen, der «Gegenwart», erkenntnistheoretisch und ethisch in seiner vollen Schärfe stellen kann [1]. – In der gegenwärtigen inflationären Verwendung des Wortes ‹K.›, das «fast schon synonym mit Denken oder Vernunft überhaupt» gebraucht wird [2], stechen auf philosophischer Seite drei Richtungen hervor: a) die an Marx' K. der politischen Ökonomie anschließende Bestimmung und Verwendung von ‹K.›, b) der ‹Kritische Rationalismus›, c) die zahlreichen, zum großen Teil wissenschaftstheoretisch orientierten Bemühungen um Sprach-K. (Die verschiedenen Strömungen der Kunst- und Literatur-K., z.B. der ‹New Criticism› oder die strukturalistische K.-Auffassung, müssen hier unberücksichtigt bleiben [3].)

    a) Kritische Theorie wird von M. HORKHEIMER programmatisch von einem traditionellen Theorieverständnis abgehoben, das sich an den Postulaten der strikten Trennung von Subjekt und Objekt, der Wertfreiheit und der Praxisabstinenz orientiert. Sie ist Gesellschaftslehre, die «die Menschen als Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand hat» [4]. Ihr kritisches Moment besteht darin, ausgehend von der Ökonomie [5], die zwiespältigen Züge der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaftsordnung zum bewußten Widerspruch zu entfalten, so aber schon als Theorie ihren Gegenstand, die Gesamtgesellschaft in ihrer gegenwärtigen Organisation, zu verurteilen [6] («Kampf gegen das Bestehende» [7]). Es geht nicht um die Behebung von Mißständen [8]; der Sinn der K. ist «nicht in der Reproduktion der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern in ihrer Veränderung zum Richtigen zu suchen» [9]. Die Zielvorstellung einer vernünftigen gesellschaftlichen Organisation gilt zwar als der menschlichen Arbeit immanent, wenngleich sie nur aus einem bestimmten Interesse heraus wahrgenommen wird [10]; dieses «Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts» bildet auch die einzige «Instanz» kritischer Theorie, die sich weder auf an sich geltende allgemeine Kriterien noch die Zustimmung einer gesellschaftlichen Klasse berufen kann [11]. – Aus dem gemäß der ‹Dialektik der Aufklärung› [12] drohenden Verfall auch dieser K. hat H. MARCUSE die praktische Konsequenz der «großen Weigerung» gezogen [13]. J. HABERMAS dagegen entwickelt K. – «Einheit von Erkenntnis und Interesse» [14] – zunächst (1965) als Aufklärung von Wissenschaft über ihr objektivistisches Selbstmißverständnis mit dem Ziel ihrer Überführung zu einem «emanzipatorischen Erkenntnisinteresse», das von der Idee des guten Lebens geleitet ist [15]; das 1971 formulierte breitere Programm (K. «müßte das objektivistische Selbstverständnis der Wissenschaften und einen szientistischen Begriff von Wissenschaft und wissenschaftlichem Fortschritt kritisieren; sie müßte insbesondere Grundfragen einer sozialwissenschaftlichen Methodologie so behandeln, daß die Erarbeitung angemessener Grundbegriffe für kommunikative Handlungssysteme nicht gehemmt, sondern gefördert wird; sie müßte schließlich die Dimension klären, in der die Logik der Forschung und der technischen Entwicklung ihren Zusammenhang mit der Logik willensbildender Kommunikationen zu erkennen gibt» [16]) mündet in die sprachkritische Theorie der umgangssprachlichen Kommunikation, die deren Pathologie aufdeckt [17].

    J.-P. SARTRE bestimmt ‹Critique de la Raison dialectique› – formal im Anschluß an Kant – durch die Aufgabe, «se demander quelles sont la limite, la validité et l'étendue de la Raison dialectique»; über deren Selbst-K. heißt es, «qu'il faut justement la laisser se fonder et se développer comme libre critique d'elle-même en même temps que comme mouvement de l'histoire et de la connaissance» [18]. ‹K.› hat hier die Bedeutung einer Ausgrenzung des gesellschaftlichen Seins im Sinne radikaler Reduktion des dialektischen auf den historischen Materialismus.

    K. und Selbst-K. wird marxistisch-leninistisch definiert als «auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens ... im Sozialismus angewandte Methode der Aufdeckung und Lösung von Widersprüchen, der Erkenntnis und Überwindung von rückständigen Auffassungen, Verhaltensweisen, Arbeitsmethoden, Einrichtungen usw.»; sie betreffe nicht bloß die Veränderung der Einsicht, sondern auch praktischer Verhaltensweisen und historisch überholter Verhältnisse [19].

    b) Aus einer Methodologie wissenschaftlicher Forschung («Methode der kritischen Nachprüfung, der Aus lese der Theorien» [20]), die Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium empirischer Sätze ausweisen will, entstanden, postuliert der ‹Kritische Rationalismus› [21] das «Prinzip der kritischen Prüfung» als Rationalitätsmodell nicht nur im Bereich der Wissenschaft, sondern im sozialen Leben schlechthin [22]. Es besagt: «Wann immer wir ... glauben, die Lösung eines Problemes gefunden zu haben, sollten wir unsere Lösung nicht verteidigen, sondern mit allen Mitteln versuchen, sie selbst umzustoßen. Leider handeln nur wenige von uns nach dieser Regel. Aber glücklicherweise werden andere gewöhnlich bereit sein, K. zu üben, wenn wir es selbst nicht tun. Aber die K. wird nur dann fruchtbar sein, wenn wir unser Problem so klar wie nur irgend möglich formuliert haben und unsere Lösung in eine hinreichend definitive Form gebracht haben; das heißt eben, in eine Form, die kritisch diskutiert werden kann» [23]. K. soll in dieser Einstellung – im Unterschied zum Begründungs- und Rechtfertigungsdenken – nicht als Zeichen des Mangels einer Problemlösung bzw. Theorie, sondern ihre Kritisierbarkeit als Rationalitätskriterium aufgefaßt werden. Permanente K. ersetzt methodologisch die Rechtfertigung [24].

    c) Philosophische K. tritt gegenwärtig zur Hauptsache als Sprach-K. in Erscheinung. Deren nie abgerissene Tradition [25] setzt sich mit dem – von der Einsicht in die sprachliche Vermitteltheit allen menschlichen Denkens und Handelns getragenen – Versuch fort, die kantische Vernunft-K. als Sprach-K. zu wiederholen [26]. L. WITTGENSTEINS Diktum «Alle Philosophie ist ‹Sprach-K.›» [27] signalisiert bereits diesen Anspruch. ‹K.› kann hier bei die Ausmerzung umgangssprachlicher Alogizität zum Zwecke der Konstruktion einer idealen Wissenschaftssprache (B. RUSSELL, R. CARNAP), die metaphysikdestruierende Rückführung der philosophischen auf die Alltagssprache (G. E. MOORE, ‹Ordinary language philosophy›), die Rekonstruktion der wissenschaftlichen aus der natürlichen Sprache als Schule vernünftigen Redens (P. LORENZEN [28]) oder «Theorie der kommunikativen Kompetenz» (J. HABERMAS) bedeuten. Auf der Basis von Lorenzens «konstruktiver Wissenschaftstheorie» entwickelt sich heute eine «konstruktive Wissenschafts-K.» [29], die «im Sinne Kants ... nicht nur als Analyse herrschender Orientierungen, sondern in gleicher Weise auch als Konstruktion neuer Orientierungen» fungieren will (Entwurf einer normativen Wissenschaftstheorie und Revision der «dogmatischen Unterscheidung zwischen theoretischen und praktischen Orientierungen») [30].

 

    Anmerkungen.

 

[1] E. GRISEBACH: Die Grundentscheidung des existentiellen Denkens und ihre K. Die Kreatur 3 (1929/30) 263–77; Gegenwart. Eine krit. Ethik (1928); Die Schicksalsfrage des Abendlandes (1942) 167ff.

 

[2] C. VON BORMANN [12 zu II/5] 3.

 

[3] Vgl. A. THIBAUDET: Ren. sur la crit. (Paris 41939); R. WELLEK: Die Hauptströmungen der Lit.-K. des 20. Jh. Stud. gen. 12 (1959) 717–26; R. BARTHES: Qu'est-ce que la crit.? in: Essais crit. (Paris 1964) 252–57.

 

[4] M. HORKHEIMER: Nachtrag (1937), in: Traditionelle und krit. Theorie. Eine Dokumentation, hg. A. SCHMIDT (1968) 2, 192.

 

[5] Traditionelle und krit. Theorie (1937) a.a.O. 2, 155; Nachtrag a.a.O. 2, 195ff.

 

[6] 157.

 

[7] 178.

 

[8] 155f.

 

[9] 167.

 

[10] 162.

 

[11] 190.

 

[12] M. HORKHEIMER und TH. W. ADORNO: Dialektik der Aufklärung. Philos. Frg. (1947, ND 1969).

 

[13] H. MARCUSE: Der eindimensionale Mensch. Stud. zur Ideol. der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (engl. 1964, dtsch. 1967).

 

[14] J. HABERMAS: Erkenntnis und Interesse (1968, 1973) 234.

 

[15] Vgl. auch: Erkenntnis und Interesse, in: Technik und Wiss. als ‹Ideologie› (1968) 146–168, bes. 158ff.

 

[16] Wozu noch Philos.?, in: Philos.-polit. Profile (1971) 11–36, zit. 33.

 

[17] Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, in: K.-O. APEL u.a., a.a.O. [12 zu II/5] 120–159, zit. 132; vgl. B. WILLMS: K. und Politik. Jürgen Habermas oder das polit. Defizit der ‹Kritischen Theorie› (1973) 128ff.; R. SIMONSCHAEFER und W. CH. ZIMMERLI: Theorie zwischen K. und Praxis. Jürgen Habermas und die Frankfurter Schule (1975).

 

[18] J.-P. SARTRE: Crit. de la raison dial. 1 (Paris 1960) 120.

 

[19] G. KLAUS und M. BUHR (Hg.): Philos. Wb. (101974) 679f.; vgl. P. HOLLANDER: Art. ‹K. und Selbst-K.›, in: Sowjetsystem und demokrat. Gesellschaft. Eine vergl. Enzyklop. 3 (1969) Sp. 1124–1134 (Lit.).

 

[20] K. R. POPPER: Logik der Forsch. (1935, 31969) 7.

 

[21] On the sources of knowledge and of ignorance (1960), in: Conjectures and refutations. The growth of sci. knowledge (London 1963) 26; W. W. BARTLEY: Flucht ins Engagement. Versuch einer Theorie des offenen Geistes (engl. 1962, dtsch. 1964) 143ff. spricht von ‹pankrit. Rationalismus›.

 

[22] H. ALBERT: Traktat über krit. Vernunft (1968, 31975) 37ff.

 

[23] POPPER, a.a.O. [20] XV.

 

[24] ALBERT, a.a.O. [22] 87.

 

[25] Vgl. H.-J. CLOEREN und S. J. SCHMIDT (Hg.): Philos. als Sprach-K. im 19. Jh. 1. 2 (1971).

 

[26] Vgl. W. KAMLAH und P. LORENZEN: Log. Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens (1967) 15ff.; K. LORENZ: Elemente der Sprach-K. Eine Alternative zum Dogmatismus und Skeptizismus in der Analyt. Philos. (1970) 30.

 

[27] L. WITTGENSTEIN: Tractatus logico-philos. 4.0031.

 

[28] Vgl. KAMLAH/LORENZEN, a.a.O. [26] 13. 27.

 

[29] P. JANICH, F. KAMBARTEL und J. MITTELSTRASS: Wiss.theorie als Wiss.-K. (1974).

 

[30] J. MITTELSTRASS: Die Möglichkeit von Wiss. (1974) 18.

 

    Literaturhinweise. Stud. gen. 12 (1959) H. 7–12, S. 393–763 mit Beitr. u.a. von L. v. WIESE, P. HEINTZ und D. RÜSCHEMEYER, R. STROHAL, K. H. SARBIN, W. P. KRAUSE, P. SCHNEIDER, U. KLUG, G. MENSCHING, H. GRASS, C.-F. GRAUMANN, R. WELLEK, H.-E. HASS, H. RISSE. – R. C. KWANT: Crit. Its nature and function (Pittsburgh 1967). – C. VON BORMANN s. Anm. [12 zu II/5]. K. RÖTTGERS s. Anm. [30 zu II/2]. – G. KRÜGER: Philos. und Moral in den Kantischen K. (1931, 21967). – W. BENJAMIN: Der Begriff der Kunst-K. in der dtsch. Romantik, hg. H. SCHWEPPENHÄUSER (1973). – R. WELLEK: Gesch. der Lit.-K. 1750–1830 (engl. 1955, dtsch. 1959). – K. WEIMAR: Hist. Einl. zur lit.wiss. Hermeneutik (1975). – K.-O. APEL u.a. s. Anm. [12 zu II/5]. – Weitere Lit. vgl. Anm. [4 zu II/1; 3. 6. 30. 35 zu II/2; 18. 30. 37. 41 zu II/4; 17. 26 zu II/6].

 

H. HOLZHEY

 

 

J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, S. 1279-1282.

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