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Kritik (8)

Sur l´eau 2008. 6. 3. 13:49

     4. Hegelsche Tradition. – Gehäufte Verwendung bei begrifflicher Nuancierung in philosophiehistorischer, religionsphilosophischer und politischer Hinsicht findet der Terminus ‹K.›, den K. FISCHER zum Kennwort des 19. Jh. erklärt [1], in der Hegelschule. Vielfach gilt Hegels Philosophie, insbesondere die ‹Phänomenologie des Geistes›, als Beispiel philosophischer K. Für die Philosophiegeschichtsschreibung hebt J. E. ERDMANN die eigentlich philosophische gegen die bloß erzählende Darstellungsweise, für die die gelehrte K. der Quellen ein wichtiges Methodeninstrument bildet, sowie die psychologische und pragmatische Historiographie ab [2]. In der philosophischen Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des Geistes ist nicht das philosophische System des Geschichtsschreibers als kritischer Maßstab vergangener Systeme anzuwenden; «die wahre K. der philosophischen Systeme in der Darstellung ihrer Geschichte besteht darin, daß man sie selbst sich kritisieren und verurteilen d.h. dialektisch sich entwickeln und in andre, als ihre Wahrheit, übergehen läßt» [3]. – In der Ablehnung eines bloß subjektiven Maßstabes der K. mit Erdmann einig konzipiert K. FISCHER eine wissenschaftliche Geschichte der Philosophie, die den historisch-erzählenden und den kritischen (d.h. philosophischen) Gesichtspunkt in sich vereinigt, indem sie sich von der Einsicht in den Prozeßcharakter der Philosophie leiten läßt [4]; K. erhält dabei die Bedeutung, Untersuchung der Entwicklung einer Sache zu sein [5]. – K. ROSENKRANZ reinterpretiert den K.-Begriff des jungen Hegel als «produktive Reproduktion» [6]; Hegels Geschichte der Philosophie unterscheide sich von früheren durch «immanente K.», mit der «die Kontinuität in den Erscheinungen des Gedankens» gewahrt und der K. gegeben werde, «was sie in ihrem negativen Tun zugleich produktiv zu machen im Stande ist», indem «ein System zuerst in seiner positiven Berechtigung als notwendiges Resultat der ihm vorangehenden Bedingungen, sodann aber in seinen eigenen Konsequenzen die Widerlegung der ihm anhaftenden Irrtümlichkeit» gezeigt werde [7]. Gegen das politische Engagement von K. macht Rosenkranz die Position eines funktional-liberal orientierten, über dem Parteienstreit stehenden Kritikers geltend [8]. Hingegen stellt sich H. F. W. HINRICHS durchaus positiv zu K. als Form politischen Handelns (die französische Revolution als «praktische K.» [9], Fichte als «kritischer Praktiker» [10]), ohne einer direkten Umsetzung theoretischer K. in Praxis das Wort zu reden bzw. dem zu kritisierenden Bestehenden jede Vernünftigkeit abzusprechen [11].

    In seiner ‹K. des ‘Anti-Hegelsʼ› (1835) unterscheidet der junge L. FEUERBACH zwei Weisen der Widerlegung eines philosophischen Systems: «die K. der Erkenntnis und die K. des Mißverstands»; diese läßt sich auf das kritisierte System nicht ein, jene weist dessen Einseitigkeit nach und ist insofern «wahre K.», als sie die Idee einer Philosophie als dessen «absolut unwiderleglichen Kern» aufsucht und «das Falsche, das Mangelhafte eines Systems ... gerade aus seinem Positiven, Wahren» ableitet, so aber «von einer wirklichen Schranke der menschlichen Vernunft» befreit [12]. Dieses K.-Konzept in hegelschem Geiste überholt Feuerbach, wenn er in ‹Zur K. der Hegelschen Philosophie› (1839) Kant, Fichte und Hegel vorwirft, «Kritiker nur gegen das Besondere ..., nicht gegen das Wesen der vorhandenen Philosophie» zu sein [13]. K. hat nun eine antisystematische Pointe: «Jedes System ist ... nur ein Objekt für die Vernunft, welches sie, als eine lebendige, in neuen denkenden Wesen sich forterzeugende Macht von sich unterscheidet und als einen Gegenstand der K. sich gegenübersetzt» [14]. Der durchaus kritischen, weil durch ein negatives Moment bestimmten Hegelschen Philosophie des Absoluten stellt Feuerbach die «genetisch-kritische Philosophie» gegenüber, «welche einen durch die Vorstellung gegebenen Gegenstand ... nicht dogmatisch demonstriert und begreift, sondern seinen Ursprung untersucht» und kritisch gerade insofern ist, als sie streng zwischen bloß Subjektivem und Objektivem unterscheidet [15]. Damit ist auch der Ansatz zur Religions-K. gegeben. Feuerbach kündigt ‹Das Wesen des Christenthums› (1841) als «K. der unreinen Vernunft» an [16], die, indem sie Anthropologie als das – schon durch die Geschichte realisierte – Wesen der Theologie bestimmt, diese von ihrem Ursprung her als «psychische Pathologie» behandelt [17].

    Philologische Bibel-K., insbesondere die historische Quellen-K. der Evangelien, bildet den Ausgangspunkt von D. F. STRAUSS' K. des Christentums, die er in Anlehnung an Hegels ‹Phänomenologie des Geistes› [18] als wahrhafte begriffliche Vermittlung sowohl der überlieferten Geschichte Jesu (historische K.) wie – auf höherer Stufe – der in sich reflektierten, Bekenntnis und Dogma gewordenen, Tradition (dogmatische K.) begreift [19]; als Maßstab der historischen K. bezeichnet er «die wesentliche Gleichartigkeit alles Geschehens» [20]. B. BAUER nimmt zum Kriterium seiner Christentums-K. das sich entwickelnde (Selbst-)Bewußtsein [21]; er beansprucht dabei, den biblischen Text gemäß dem protestantischen Schriftprinzip ernst zu nehmen, indem er ihn zum Gegenstand philologisch-kritischer Forschungen macht – es sei nicht seine Schuld, wenn Christentum bzw. Theologie sich in der K. schließlich selbst auflösen [22]. K. ist die Ausführung des Willens der untergehenden Religion, «das befreite Selbstbewußtsein, welches nicht flieht, wie sie, sich nicht in die phantastische Widerspiegelung dieser Welt erhebt, sondern sich durch die Welt durchschlägt und den Kampf mit den Schranken und Privilegien wirklich durchführt» [23]. (Über Bauers Begriff der «kritischen» bzw. «reinen K.» als der «letzte[n] Tat einer bestimmten Philosophie, welche sich darin von einer positiven Bestimmtheit, die ihre wahre Allgemeinheit noch beschränkt, befreien muß» [24], vgl. Art. ð ‹K., kritische›).

    K. MARX kann 1844 feststellen: «Für Deutschland ist die K. der Religion im wesentlichen beendigt, und die K. der Religion ist die Voraussetzung aller K.» [25]. Der Ungewißheit über das kritische «‹Wohin›» läßt sich das Positive abgewinnen, «daß wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der K. der alten Welt die neue finden wollen»; gegenüber allem «Bestehenden» darf und muß die K. «rücksichtslos» (nämlich ohne Furcht «vor ihren Resultaten» und «vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten») sein [26]. Ist die vorliegende Religions-K. «im Keim» als «K. des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist», also als K. der Zustände, die der religiösen Illusion bedürfen, zu begreifen, so verwandelt sie sich damit in die K. des Rechts und der Politik, der menschlichen Selbstentfremdung in ihren «unheiligen Gestalten» [27]. Marx begründet es noch eigens mit der Inhärenz der Vernunftforderungen im politischen Staat, daß K. der Politik nicht unter die «hauteur des principes» falle; sie tritt «nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen», sondern weckt sie «aus dem Traum über sich selbst» zum Bewußtsein auf [28]. K. gilt sowohl den bestehenden Zuständen (dem modernen Staat) wie der Theorie (der Hegelschen Rechtsphilosophie), und der letzteren insofern zuerst, als sie unter den deutschen Verhältnissen die entwickeltste Form des Bestehenden ausmacht [29]; K. der Wirklichkeit und K. der Philosophie bilden eine einzige K., weil Marx in der von der Philosophie ausgehenden ersteren auch letztere sich vollziehen sieht [30]. Im Verhältnis zur Praxis revolutionärer Veränderung, die allein die kritisch erhobenen Aufgaben lösen kann, erübrigt zwar die durchaus schon martialisch beschriebene «Waffe der K.», durch die der «Feind» nicht widerlegt, sondern vernichtet werden soll [31], nicht «die K. der [d.h. mittels] Waffen» [32]; das dennoch postulierte Praktischwerden der philosophischen K., ineins Verwirklichung und Aufhebung der Philosophie, begründet Marx (in Weiterführung von A. RUGES Begriff der «objektiven K.» als der historischen Bewegung selbst [33]) mit der Einführung des Proletariats als Akteur im eigengesetzlichen historischen Prozeß der Wirklichkeit. In Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen, insbesondere der «kritischen K.» [34], der Marx in den Pariser ‹Ökonomisch-philosophischen Manuskripten› zunächst «positive K.» entgegenhält [35], entwickeln K. Marx und F. ENGELS 1845/46, ausgehend von der Feststellung, daß es keinem der Junghegelianer eingefallen sei, «nach dem Zusammenhange ihrer K. mit ihrer eignen materiellen Umgebung zu fragen» [36], einen neuen Begriff der Ideologie. Die K. der Ideologie bzw. der Ideologen ist K. zweiter Stufe, in der die Rückführung einer sich mißverstehenden ‹K.›, einer hinter der Marxschen Verhältnisbestimmung von Philosophie- und Wirklichkeits-K. zurückbleibenden Philosophie, auf eine nun historisch-materialistisch verstandene Wirklichkeit betrieben wird [37]. Der K.-Begriff gewinnt in der materialistischen Wendung Bezug zur Empirie, zu einer «die wirklichen materiellen Voraussetzungen als solche empirisch beobachtenden und darum erst wirklich kritischen Anschauung der Welt» [38], nicht jedoch in empiristischem, sondern in dialektischem Sinne, demgemäß die Wirklichkeit ihre K. sich vollbringen läßt. MARX' Ökonomietheorie [39] ist dann insofern K., als sie zum einen in der Darstellung der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus die diesem immanente Destruktivität (Widersprüchlichkeit, ‹K.›) sich entwickeln läßt («zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung K. desselben» [40]) und zum anderen Falschheit bzw. Ungenügen der bisherigen Ansätze zu einer politischen Ökonomie ausweist [41].

 

    Anmerkungen.

 

[1] K. FISCHER: Gesch. der neuern Philos. 8/II (21911) 1179.

 

[2] J. E. ERDMANN: Versuch einer wiss. Darstellung der Gesch. der neuern Philos. I/1 (1834) 58ff.

 

[3] a.a.O. 75f.

 

[4] FISCHER, a.a.O. [1] 1 (41897) 8.

 

[5] a.a.O. [1] 1178f.; System der Logik und Met. oder Wiss.lehre (21865) 200f.; Die hundertjährige Gedächtnisfeier der kantischen ‹KrV›, in: Philos. Schr. 3 (21892) 301.

 

[6] K. ROSENKRANZ: G. W. F. Hegels Leben (1844, 2. ND 1969) 164.

 

[7] Hegel als dtsch. Nationalphilosoph (1870, ND 1965) 230.

 

[8] Göthe und seine Werke (1847) 32f.; Aus einem Tagebuch. Königsberg Herbst 1833 bis Frühjahr 1840 (1854) 227. 256.

 

[9] H. F. W. HINRICHS: Polit. Vorles. (1843) 1, 209.

 

[10] a.a.O. 1, 234.

 

[11] Ferienschr. Pfingsten 1844 (1844) 62. 79f.

 

[12] L. FEUERBACH, Werke, hg. W. BOLIN/F. JODL 2, 17–19.

 

[13] a.a.O. 2, 181.

 

[14] 2, 174; vgl. 5, 413.

 

[15] 2, 193f.

 

[16] Gesammelte Werke, hg. W. SCHUFFENHAUER 9 (1970) 80f.

 

[17] Das Wesen des Christenthums (1841) Vorwort VIff.

 

[18] D. F. STRAUSS: Streitschr. zur Vertheidigung meiner Sehr, über das Leben Jesu ... 3. Heft (1838) 65; vgl. J. GEBHARDT: Politik und Eschatol. Stud. zur Gesch. der Hegelschen Schule in den Jahren 1830–1840 (1963) 115f.

 

[19] D. F. STRAUSS: Das Leben Jesu kritisch bearbeitet (1835/36) 2, 688.

 

[20] Streitschr. ..., a.a.O. [18] 37.

 

[21] B. BAUER: K. der Gesch. der Offenbarung (1838).

 

[22] Die gute Sache der Freiheit und meine eigene Angelegenheit (1842), in: Feldzüge der reinen K. Nachwort H.-M. SASS (1968) 97ff.

 

[23] Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden (1843), in: Feldzüge ..., a.a.O. [22] 192.

 

[24] K. der evang. Gesch. der Synoptiker 1 (1841) XXI.

 

[25] K. MARX, Zur K. der Hegelschen Rechtsphilos. Einl. MEW 1, 378.

 

[26] Brief an Rüge (Sept. 1843). MEW 1, 344.

 

[27] MEW 1, 379.

 

[28] 345f.

 

[29] 384f.

 

[30] Vgl. K. HARTMANN: Die Marxsche Theorie. Eine philos. Untersuch. zu den Hauptschr. (1970) 73.

 

[31] MARX, MEW 1, 380.

 

[32] a.a.O. 385.

 

[33] A. RÜGE, Sämtl. Werke (21847/48) 4, 279; vgl. RÖTTGERS, a.a.O. [30 zu II/2] 232ff.

 

[34] Vgl. MARX/ENGELS, Die heilige Familie oder K. der krit. K. MEW 2, 3ff.

 

[35] MEW Erg.-Bd. 1, 467ff.

 

[36] Die dtsch. Ideol. MEW 3, 20.

 

[37] 3, 17ff.; vgl. H. LÜBBE: Zur Gesch. des Ideol.-Begriffs, in: Theorie und Entscheidung. Stud. zum Primat der prakt. Vernunft (1971) 168ff.; D. BÖHLER: Meta-K. der Marxschen Ideologie-K. und ‹Theorie-Praxis-Vermittlung› (1971).

 

[38] MEW 3, 217; vgl. RÖTTGERS, a.a.O. [30 zu II/2] 267ff.

 

[39] K. MARX: Zur K. der polit. Ökonomie (1859); Das Kapital 1 (1867).

 

[40] Br. an Lassalle. MEW 29, 550.

 

[41] Vgl. J. HABERMAS: Zwischen Philos. und Wiss.: Marxismus als K., in: Theorie und Praxis. Sozialphilos. Stud. (1963, 31969) 179ff.

 

 

J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, S. 1275-1278.

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