HWPh

Kritik (7)

Sur l´eau 2008. 6. 3. 13:44

     3. Nachkantische Philosophie. – Bei den Kantepigonen wird der Begriff (bzw. Titel) der K. zum Schulnamen; seine inhaltlichen Merkmale sind weitgehend standardisiert, die skeptisch-destruktive Komponente von K. tritt zurück [1].

          J. G. HAMANN führt das Wort ‹Meta-K.› in die philosophische Terminologie ein [2]. Seine ‹Meta-K. über den Purismum der Vernunft› [3] überbietet die kantische K., wenngleich nur programmatisch, im Blick auf die Sprache als den «Mittelpunkt des Mißverstandes der Vernunft mit ihr selbst». Auch für J. G. HERDER, der ‹Eine Meta-K. zur KrV› und unter dem Titel ‹Kalligone› eine solche zur KU systematisch ausführt (1799/1800), hat wahre K., als die er seine Meta-K. begreift, ihren Angriffspunkt an mangelhaftem Sprachgebrauch. Sie darf sich – und damit bestätigt Herder, daß er an die vor- und frühkantische Verwendung des Begriffes anknüpft («Ein Vermögen der menschlichen Natur kritisiert man nicht ... Künste, Wissenschaften, als Werke des Menschen betrachtet, kritisiert man ...» [4]) – der Grammatik verwandt wissen [5]; «Sprache ist das Kriterium der Vernunft» [6]. In verwandter Weise konzipiert unter Berufung auf F. H. JACOBI [7] der späte C. L. REINHOLD, überzeugt von der Notwendigkeit einer Sprach-K., die erst «das alte Mißverständnis, welches die Philosophen über den Sinn ihrer ersten Aufgabe entzweit», aufdecken wird, eine «K. des Sprachgebrauchs in der Philosophie aus dem Gesichtspunkte der Sinnverwandtschaft der Wörter und der Gleichnamigkeit der Begriffe» [8]. HERDER löst sich im Ansatz seiner Meta-K. darüber hinaus von der Vorstellung, K. sei mit Kants Werk geleistet und bestimmt sie als ständige Aufgabe: «Die Vernunft wird sich kritisieren und jede K. derselben muß sich gefallen lassen, kritisiert zu werden, solange Vernunft und K. ist» [9].

    Im deutschen Idealismus tritt der K.-Begriff in auffälliger Weise zurück. K. ist zur «kritischen Philosophie» geworden, auf die sich REINHOLD, FICHTE und SCHELLING zunächst noch verpflichtet wissen, auch wenn sie einen verschärften Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben und diesen in der neuen Form einer systematischen, deduktiv verfahrenden ‹Grundsatz-Philosophie› einzulösen versuchen. Die Identität von kritischer Philosophie und ‹Wissenschaftslehre› [10] sichert J. G. FICHTE mit der hermeneutischen Unterscheidung zwischen Geist und Buchstaben der kantischen Philosophie [11]. Die Resultate der kritischen Philosophie müssen für F. W. J. SCHELLING (in seiner frühen, an Fichte orientierten Periode) auf die letzten Prinzipien alles Wissens, die Kant nur vorausgesetzt habe, zurückgeführt werden [12]. Die kantische «K. des Erkenntnisvermögens» gelangte, als ein erster Versuch dieser Art, nur bis zum Beweis der theoretischen Unbeweisbarkeit des Dogmatismus [13], womit er nicht widerlegt war. Im Blick auf den andauernden Streit zwischen den Systemen des Dogmatismus und Kritizismus gibt Schelling einer ‹Vernunft-K.› die Funktion, «kein System ausschließend zu begünstigen, sondern vielmehr den Kanon für sie alle entweder wirklich aufzustellen, oder wenigstens vorzubereiten»; die KrV sei «gerade dazu bestimmt, die Möglichkeit zweier einander gerade entgegengesetzter Systeme aus dem Wesen der Vernunft abzuleiten», als solche aber «unumstößlich und unwiderlegbar», «während jedes System, wenn es diesen Namen verdient, durch ein notwendig entgegengesetztes widerlegbar sein muß» [14]. – Einen relativ isolierten Versuch zur Rückeroberung des K.-Begriffes für die ‹Wissenschaftslehre› unternimmt FICHTE in der Vorrede zur 2. Ausgabe von ‹Über den Begriff der Wissenschaftslehre› (1798). K. wird hier als Metareflexion eingeführt, sie liegt über die Metaphysik (= Wissenschaftslehre) hinaus und verhält sich zu ihr wie diese «zur gewöhnlichen Ansicht des natürlichen Verstandes» (auch das letztere Verhältnis kann in uneigentlichem Sinne als ‹K.› bezeichnet werden; Kant ist dafür zu tadeln, daß er beide Weisen von K. nicht genau unterschieden hat). «Die Metaphysik erklärt diese Ansicht, und sie selbst wird erklärt in der K.» Die Untersuchungen der reinen K., die nicht selbst Metaphysik beigefügt enthält, richten sich auf «die Möglichkeit, die eigentliche Bedeutung, die Regeln einer solchen Wissenschaft» [15].

    In der programmatischen Einleitung zu dem von ihnen gemeinsam herausgegebenen ‹Kritischen Journal der Philosophie› äußern sich SCHELLING und HEGEL ‹Über das Wesen der philosophischen K. überhaupt, und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere› [16]. K. wird dabei durchaus als «eine K. der Bücher und Systeme» [17] verstanden und unter Bezugnahme auf das Wesen der Kunst-K. begrifflich entwickelt. Die strukturelle Verbindung von Philosophie und ästhetischer K. im Zeichen der Herausbildung eines originalen K.-Konzepts hat ihren Kristallisationspunkt in den Schriften der Frühromantiker, insbesondere FR. SCHLEGELS [18]: «Die K. der Philosophie bedarf keiner andern Prämissen, als deren, welche jeder andern kritischen Arbeit zugrunde liegen» [19]; in ihr «muß die φ [Philosophie] nothwendig als K[unst] betrachtet werden» [20]. In seiner Lessing-Interpretation prägt Schlegel den Begriff einer K., die «selbst produzierend wäre, wenigstens indirekt durch Lenkung, Anordnung, Erregung» [21]. Diese «produzierende K.» hat analog zur «alten» der Griechen eine negative Seite: Vertilgung (Annihilation) alles Falschen und Unechten in Bücherwelt wie menschlicher Denkart, was «man füglich mit Lessing Polemik nennen» kann, wie eine positive, das Rechte organisierende Aufgabe: historische «Konstruktion und Erkenntnis des Ganzen» [22], die auf eine ‹Enzyklopädie› hinausläuft, in der «Einheit und Verschiedenheit aller höhern Wissenschaften und Künste und alle gegenseitigen Verhältnisse derselben von Grund aus zu bestimmen versucht» werden [23]. Das Verhältnis von K. und Kritisiertem ist das der Potenzierung: «Die wahre K. [ist] ein Autor in der 2t Potenz» [24], sie ist also selbst Philosophie (Philosophie der Philosophie [25]) bzw. ein Kunstwerk (Poesie der Poesie [26]). K. bildet das «Mittelglied der Historie und der Philosophie, das beide verbinden, in dem beide zu einem neuen Dritten vereinigt werden sollen» [27]; Kants «K. der philosophierenden Vernunft» erscheint Schlegel nicht historisch genug [28]. Eine besondere kritische Methode gibt es nicht; «das Geschäft der K. kann in jeder Methode abgetan werden; es kommt dabei nur auf das Genie des Scharfsinns, auf große Gelehrsamkeit und Unparteilichkeit an», auf individuellen «kritischen Geist» also [29].

    SCHELLING und HEGEL [30] setzen als Maßstab philosophischer K., der vom Kritiker wie Kritisierten gleichermaßen unabhängig, «von dem ewigen und unwandelbaren Urbild der Sache selbst hergenommen» sein soll, die Idee der einen Philosophie. Wo in einem zu beurteilenden Werk diese Idee fehlt, kann es K. als «Subsumtion unter die Idee» nicht geben; als «Verwerfung» solcher Unphilosophie [31] erhält K. notwendig das Ansehen, polemisch die Sache einer Partei gegen die andere zu vertreten [32]. «Wo aber die Idee der Philosophie wirklich vorhanden ist, da ist es Geschäft der K., die Art und den Grad, in welchem sie frei und klar hervortritt, so wie den Umfang, in welchem sie sich zu einem wissenschaftlichen System der Philosophie herausgearbeitet hat, deutlich zu machen» [33]. Bei dieser Konfrontation des Bedingten mit dem Absoluten kann es – formal verwandt mit F. Schlegels Absehen auf kritische Selbstvollendung eines Werkes – «das eigentlich wissenschaftliche Interesse» sein, «die Schale aufzureiben, die das innere Aufstreben noch hindert den Tag zu sehen» [34]. Bei aller Würdigung der negativen Funktion von K., dem Zerschlagen von Beschränktheiten, erwarten die Autoren von ihr doch wesentlich positiv «Wegbereitung für den Einzug wahrer Philosophie» [35].

    Tendenziell folgen G. W. F. HEGELS spätere Programme zur Gründung einer kritischen Zeitschrift dieser ersten Konzeption. K. soll auf «gründliche Untersuchung und die Abhandlung der Sache» [36] gerichtet sein; das impliziert inhaltsbezogene Darlegung und Anerkennung vortrefflicher Werke [37], nicht so sehr «negative K.», die nach den ‹Maximen des Journals der deutschen Literatur› vor allem der bewußtlosen Tradition gilt, im späteren Programm ‹Über die Einrichtung einer kritischen Zeitschrift der Literatur›, sofern sie «das Gewöhnliche, Beschränkte, Mittelmäßige und Schlechte» betrifft, ganz unbeachtet bleiben soll [38]. Im übrigen tritt in Hegels Werken ‹K.› zugunsten anderer Termini wie ‹Prüfung› oder ‹Widerlegung› zurück. In der Einleitung zur ‹Phänomenologie des Geistes› wird gezeigt, daß die «Prüfung der Realität des Erkennens», insofern sie ins Bewußtsein fällt, nicht einen außerhalb ihrer anzunehmenden Maßstab voraussetzt, vielmehr das Bewußtsein an ihm selbst seinen Maßstab hat, der sich in der Prüfung, die auch seine Prüfung ist, mit dem Wissen des Bewußtseins ändert und also selbst der Dialektik des Wissens unterworfen ist [39]. Als «wahrhafte Widerlegung» muß K. «in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen» [40], d.h. sich als bestimmte Negation einer – auch traditionellen – Position im dialektischen Prozeß des Systems situieren [41].

 

    Anmerkungen.

 

[1] Vgl. RÖTTGERS, a.a.O. [30 zu II/2] 63ff.

 

[2] J. G. HAMANN, Brief an Herder (7. 7. 1782). Briefwechsel 4, hg. A. HENKEL (1959) 400.

 

[3] Meta-K. ... (1784, publ. 1800). Werke, hg. J. NADLER 3 (1951) 281–289.

 

[4] J. G. HERDER, Werke, hg. B. SUPHAN 21 (1881) 17.

 

[5] a.a.O. 21, 20.

 

[6] 21, 317.

 

[7] F. H. JACOBI: Zugabe. An Erhard O. (1791), in: Eduard Allwils Briefslg. Ausgabe letzter Hand (1826) 252f.

 

[8] C. L. REINHOLD: Grundleg. einer Synonymik für den allg. Sprachgebrauch in den philos. Wiss. (1812) Vff.

 

[9] HERDER, a.a.O. [4] 21, 23.

 

[10] J. G. FICHTE, Akad.-A. 1/2, 279.

 

[11] 1/3, 190.

 

[12] F. W. J. SCHELLING: Vom Ich als Prinzip der Philos. (1795) Vorrede.

 

[13] Philos. Briefe über Dogmatismus und Kriticismus (1795) 2. und 3. Br.

 

[14] a.a.O. 5. Br.

 

[15] J. G. FICHTE, Akad.-A. 1/2, 159f.; ähnlich in: Über das Verhältnis der Logik zur Philos. (1812). Werke, hg. I. H. FICHTE 9, 108.

 

[16] G. W. F. HEGEL, Ges. Werke, hg. Dtsch. Forschungsgemeinschaft 4, 117–128.

 

[17] I. KANT, KrV A XI.

 

[18] Vgl. Art. ð ‹K. (Literatur-K.) II›.

 

[19] FR. SCHLEGEL: Die Entwickl. der Philos. in 12 Büchern (1804/05) = Krit. A., hg. E. BEHLER 12, 286.

 

[20] Philos. Frg. (1797) = 18, 79.

 

[21] Lessings Gedanken und Meinungen (1804) = 3, 82.

 

[22] 3, 58.

 

[23] 3, 82.

 

[24] Philos. Frg. = 18, 106.

 

[25] Athenäum-Frg. (1798) = 2, 213.

 

[26] 2, 204.

 

[27] 3, 60.

 

[28] 12, 286.

 

[29] 12, 313.

 

[30] HEGEL, a.a.O. [16].

 

[31] a.a.O. [16] 118.

 

[32] 119. 127.

 

[33] 119.

 

[34] 120.

 

[35] 127.

 

[36] 4, 512.

 

[37] ebda, und Werke, hg. H. GLOCKNER 20, 33ff.

 

[38] a.a.O. 20, 33.

 

[39] Phänomenol. des Geistes, hg. J. HOFFMEISTER (1952) 70ff.

 

[40] Wiss. der Logik. Werke, hg. H. GLOCKNER 5, 11.

 

[41] Vgl. W. CH. ZIMMERLI: Die Frage nach der Philos. Interpretationen zu Hegels ‹Differenzschrift›. Hegel-Studien Beih. 12 (1974) 64.

 

 

 J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, S. 1272-1275.

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