HWPh

Kritik (9)

Sur l´eau 2008. 6. 3. 13:51

     5. Theorie der Geisteswissenschaften und Neukantianismus. – Für die K.-Auffassung im Bereich der Methodologie der sich entwickelnden Geisteswissenschaften ist zunächst die Stellungnahme F. SCHLEIERMACHERS relevant. Während er ein Wechselverhältnis zwischen Grammatik und philologischer K. konstatiert, steht die kritische Tätigkeit der hermeneutischen im ganzen gesehen nach, indem sie «erst mit den Schwierigkeiten, durch welche die hermeneutische sich gehemmt fühlt», akut wird [1]. In Auseinandersetzung mit F. A. WOLF [2] und F. AST [3] subsumiert er die philologische der historischen K. als der «Kunst ... aus Erzählungen und Nachrichten die Tatsachen auszumitteln» [4]; die scheinbar selbständig auftretenden Formen «historische» und «doktrinale K.» («Würdigung eines Werkes in Bezug auf seinen Gattungsbegriff» [5]) lassen sich als Abstufungen kritischer Tätigkeit überhaupt begreifen, die «zu den einzelnen Tatsachen im Leben einer Nation ... ein gemeinsames inneres, nämlich den eigentümlichen Lebenstypus selbst» aufsucht, «von welcher innern Tat die einzelnen Lebensmomente selbst wieder nur Erzählungen sind». Diese so allgemein gefaßte kritische Tätigkeit ist der produktiven entgegengesetzt [6]. – In seiner «Wissenschaftslehre der Geschichte» [7] situiert J. G. DROYSEN K. methodologisch zwischen Heuristik und Interpretation. «Sichtung und Untersuchung eines Gegebenen oder Getanen» zu sein [8] – diese Umschreibung des Gemeinsamen aller Arten von K. spezifiziert sich für die historische K., die als Methode der Geschichtswissenschaft bei B. G. NIEBUHR, L. RANKE u.a. entwickelt, aber nicht eigentlich theoretisch begründet wurde [9], zur Aufgabe, «zu bestimmen, in welchem Verhältnis das noch vorliegende Material zu den Willensakten steht, von denen es Zeugnis gibt» (K. der Echtheit, des Früheren und Späteren, des Richtigen/Quellen-K., kritische Ordnung) [10]. «Das Ergebnis der K. ist nicht ‹die eigentliche historische Tatsache›, sondern, daß das Material bereit gemacht ist, eine verhältnismäßig sichere und korrekte Auffassung zu ermöglichen» [11]. – In W. DILTHEYS Verbindung von Historismus und Hermeneutik tritt (wie überhaupt in der modernen ‹hermeneutischen Philosophie› [12]) der K.-Begriff zurück, außer daß er sein Programm einer Grundlegung der Geisteswissenschaften auch, in Anlehnung an Kant, als «K. der historischen Vernunft» bezeichnet [13].

    Kants K. der Vernunft will, unter anderen Voraussetzungen, schon J. F. FRIES 1807 wiederholen: als systematischen Entwurf einer «philosophischen Anthropologie», die empirisch, von der Selbstbeobachtung ausgehend, nach den «allgemeinen Gesetzen unseres innern Lebens» forscht, um nach Maßgabe der Kantischen Vorarbeiten zur Beurteilung philosophischer Erkenntnisse instand zu setzen [14]. – Zunächst in polemischer Absicht, dann als «bewußte Huldigung des Genius Kants» wählt R. AVENARIUS den Titel ‹K. der reinen Erfahrung› zur Kennzeichnung des empiriokritizistischen Vorhabens einer Erkenntnistheorie im – als Reinigung der Erfahrung aufgefaßten – Rückgang auf den «natürlichen Weltbegriff» [15]. Formal verwandt begreift auch der Neukantianismus die kritische als systematische Aufgabe einer Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheorie. Zwar stellt F. A. LANGE der systematischen Scheinwissenschaft Metaphysik die philosophische K. entgegen, d.h. «Untersuchungen, welche mit den gewöhnlichen Mitteln der Empirie und des Verstandes die allgemeinen Begriffe bearbeiten» [16]. H. COHEN verwendet aber den Ausdruck ‹Erkenntnis-K.› (anstelle von ‹Erkenntnistheorie›), um in der Erinnerung an die «originale Entdeckung Kants» den nicht-psychologischen, geltungslogischen Charakter dieser Disziplin hervortreten zu lassen: «Die K. entdeckt das Reine in der Vernunft, insofern sie Bedingungen der Gewißheit entdeckt, auf denen die Erkenntnis als Wissenschaft beruht» [17]. Mit der Fortentwicklung zu einer ‹Logik der reinen Erkenntnis›, der keine Lehre von der Sinnlichkeit vorausgeht, soll Logik «als K.» zur Geltung kommen [18]; innerhalb der Logik erhält K. «nach ihrer ursprünglichen und natürlichen Bedeutung» die eingeschränkte Funktion der Kontrolle des reinen Denkens in den der Modalität entsprechenden «Urteilen der Methodik» [19]. – Nach W. WINDELBAND untersucht Philosophie in kritischer (von der genetischen scharf zu scheidenden) Methode die Geltung der Axiome unter dem Gesichtspunkt ihrer «teleologischen Notwendigkeit» [20] und findet in dieser auch den Maßstab für eine «‹K. der historischen Vernunft›» [21]. K. fällt mit der Theorie der Geltung bzw. Grundlegung [22] zusammen, die sich auch auf das ethische Gebiet – als Theorie der Grundlegung von Geschichte [23] – erstreckt.

 

    Anmerkungen.

 

[1] FR. SCHLEIERMACHER: Über Begriff und Einteilung der philol. K. (1830). Sämtl. Werke. Lit. Nachlaß. Zur Philos., hg. L. JONAS 1 (1835) 394f.

 

[2] F. A. WOLF: Darstellung der Alterthums-Wiss. nach Begriff, Umfang, Zweck und Werth, in: Museum der Alterthums- Wiss., hg. F. A. WOLF/P. BUTTMANN 1 (1807) 10–145.

 

[3] F. AST: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und K. (1808).

 

[4] SCHLEIERMACHER, a.a.O. [1] 396.

 

[5] 392.

 

[6] 399.

 

[7] J. G. DROYSEN: Theol. der Gesch. (1843), in: Historik. Vorles. über Enzyklop. und Methodol. der Gesch., hg. R. HÜBNER (51967) 377.

 

[8] Enzyklop. und Methodol. ... a.a.O. 92.

 

[9] 95.

 

[10] Grundriß der Historik (31882) a.a.O. [7] 336(ff.); vgl. 92ff.

 

[11] 338f.

 

[12] Vgl. H.-G. GADAMER: Replik, in: K.-O. APEL u.a.: Hermeneutik und Ideologie-K. (1971) 283ff.; C. VON BORMANN: Der prakt. Ursprung der K. (1974) 55. 185f.

 

[13] W. DILTHEY, Ges. Schr. 1 (61966) IX; 7 (41965) 191f.; vgl. 5 (41964) XIII (Vorbericht des Hg.).

 

[14] J. F. FRIES: Neue K. der Vernunft (1807) XXXVIII. XLVIIIf.

 

[15] R. AVENARIUS: K. der reinen Erfahrung 1 (1888) Vorwort.

 

[16] F. A. LANGE: Gesch. des Materialismus und K. seiner Bedeutung in der Gegenwart (1866) 250 (in der 2. Aufl. gestrichen); vgl. 261; dazu H. HOLZHEY: Philos. K. Zum Verhältnis von Erkenntnistheorie und Sozialphilos. bei F. A. Lange, in: F. A. Lange – Leben und Werk (1975) 207–225.

 

[17] H. COHEN: Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Gesch. (1883) § 8; vgl. Einl. mit krit. Nachtrag zu Langes Gesch. des Materialismus, in: Sehr, zur Philos. und Zeitgesch. (1928) 2, 270; P. NATORP: Allg. Psychol. nach krit. Methode 1 (1912) 94f.

 

[18] H. COHEN: Logik der reinen Erkenntnis (21914) 37.

 

[19] a.a.O. 402f.

 

[20] W. WINDELBAND: Krit. oder genet. Methode? (1883), in: Präludien 2 (1924) 99–135, zit. 109.

 

[21] a.a.O. 120. 134.

 

[22] A. LIEBERT: Wie ist krit. Philos. überhaupt möglich? Ein Beitrag zur systemat. Phänomenol. der Philos. (1919) 39ff.

 

[23] Vgl. A. GÖRLAND: Ethik als K. der Weltgesch. (1914).

 

 

J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, S. 1278-1279.

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