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Kritik (6)

Sur l´eau 2008. 6. 3. 13:39

2. Kritische Werke Kants. – Philosophische K. wird in KANTS erstem Hauptwerk als Selbst-K. der Vernunft bestimmt. «... nicht eine K. der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt» ist geplant, damit aber das beschwerlichste Vernunftgeschäft, «das der Selbsterkenntnis aufs neue zu übernehmen» [1]. Zur Beurteilung und Entscheidung stehen Erkenntnisansprüche, die metaphysisches Denken aus reiner Vernunft erhebt. Es geht um «Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben, alles aber aus Prinzipien» [2]. Die K. denkt sich Kant nach dem Modell des Gerichtshofes organisiert [3]. Anlaß zum Prozeß sind die «endlosen Streitigkeiten» auf dem metaphysischen Kampfplatz [4], die geschlichtet werden müssen, wenn Metaphysik nach dem Vorbild von Mathematik und Physik den sicheren «Weg der Wissenschaft» finden soll [5]. Allein schon daß vergleichsweise ein Prozeß stattfindet, der nicht wie der Krieg (im polemischen Vernunftgebrauch) auf den zweifelhaften Sieg einer Seite hinausläuft, sondern auf den kritischen Richterspruch der Vernunft, der «die Quelle der Streitigkeiten selbst trifft» und deshalb «einen ewigen Frieden gewähren muß» [6], hat K. legitimierende Bedeutung. Vernunft im kritischen Gebrauch deckt die Hintergründe («Quelle») der prekären Situation des metaphysischen Diskurses auf. ‹Kritisch› heißt dieses Verfahren im Gegensatz zum dogmatistischen und skeptizistischen Vorgehen [7] (nicht aber im Gegensatz zum «dogmatischen Verfahren», das wissenschaftliche Vernunfterkenntnis ihrer Form nach charakterisiert [8], und zur «skeptischen Methode», die Kant teils selbst als ein Element der K. [9], teils als einen nützlichen Schritt zur K. hin [10] auffaßt). K. entzieht sich ausdrücklich dem Streit, ist nicht Kampfpartei; sie «suspendirt das Urtheil» [11] bezüglich der Vernunftaufgaben Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, um zuerst die Zulänglichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens für die Bewältigung dieser Aufgaben zu prüfen. Als «eine Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen» [12], «die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftigt» (A) bzw. «mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt» (B) [13], nennt sie Kant transzendentale K. [14]. Ihre wichtigste Thematik hat diese in der Beurteilung der Möglichkeit, apriorisch-vernünftige Erkenntnis des Unbedingten aus bloßen Begriffen zu gewinnen. Die destruierende Funktion der K. der Vernunft stellt Kant als transzendentale Dialektik dar, deren Aufgabe es ist, «den Schein transzendenter Urteile aufzudecken und zugleich zu verhüten, daß er nicht betrüge» [15]. Hierin liegt der negative Nutzen der K., die Abfertigung aller grundlosen Anmaßungen der Vernunft [16], «uns nämlich mit der spekulativen Vernunft niemals über die Erfahrungsgrenze hinaus zu wagen» [17]. Er ist vergleichbar mit demjenigen Nutzen, den Polizei schafft, deren Hauptaufgabe darin besteht, die Bürger vor Gewalttätigkeit zu beschützen [18]. Kant beeilt sich, in KrV B an diesem Vergleich die «in Ansehung der Spekulation», wie es nun einschränkend heißt [19], gleichzeitig positive Wirkung der K. für den praktischen Vernunftgebrauch hervorzuheben [20].

    Die Entdeckung einer Antinomie der reinen Vernunft in kosmologischen Fragen hat Kant in starkem Maße historisch zu seiner K. der Vernunft motiviert, ihre Auflösung bestimmt auch den wesentlichen Gehalt des K.-Begriffes der KrV. Im Skandal eines scheinbaren Widerstreits der Vernunft mit sich selbst kulminiert der Streit zwischen verschiedenen metaphysischen Positionen; kritische Vernunft überführt die – dogmatischen Vernunftgebrauch repräsentierenden – Parteien, «daß sie um nichts streiten» [21], indem sie eine ihnen gemeinsame falsche Voraussetzung («daß Erscheinungen oder eine Sinnenwelt, die sie insgesamt in sich begreift, Dinge an sich selbst wären») aufdeckt [22], und restituiert so Vernunft aus ihren Verfallsformen. «K. ist die Selbsterkenntnis der vor sich selbst und auf sich selbst gestellten Vernunft. K. ist so der Vollzug der innersten Vernünftigkeit der Vernunft» (M. HEIDEGGER [23]). Der kritische ersetzt den dogmatischen Gebrauch der Vernunft und die diesem eigene polemische Abfertigung der Gegner [24]. Das gilt auch von der K. an rationaler Theologie und Psychologie, obwohl hier kein derartiger Widerstreit vorliegt, so daß K. zwar nicht mit dogmatischer Verneinung metaphysischer Behauptungen, aber mit der Falsifizierung «der Beweisgründe des Dogmatischbejahenden» zusammenfällt [25]. – Kritische transzendentale Dialektik kann aber «den Schein transzendenter Urteile» nicht einfach zum Verschwinden bringen. K. müßte also (angesichts der sich selbst «unablässig in augenblickliche Verirrungen» stoßenden Vernunft, «die jederzeit gehoben zu werden bedürfen» [26]) eigentlich als Daueraufgabe begriffen werden, eine Konsequenz, die Kant nicht explizit zieht. Nach der Vorrede B ist der scheinerzeugenden Vernunft vielmehr «ein für allemal» durch Verstopfung der Quelle ihrer Irrtümer jeder nachteilige Einfluß zu nehmen [27]. Und die Transzendentale Methodenlehre führt analog zum ursprünglichen ästhetischen Konzept die K., insofern diese nicht wie die skeptische Zensur bloß Fakta der Vernunft, sondern die Vernunft selbst beurteilt [28], auf eine Disziplin der reinen Vernunft hinaus, «eine ganz eigene und zwar negative Gesetzgebung ..., welche ... aus der Natur der Vernunft und der Gegenstände ihres reinen Gebrauchs gleichsam ein System der Vorsicht und Selbstprüfung errichte, vor welchem kein falscher vernünftelnder Schein bestehen kann» [29].

    Maßstab der K. ist die wahre Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft. Kant setzt das Beurteilungskriterium nicht – wie etwa die professionellen Literaturkritiker im frühen 18. Jh. ihre Regeln – in dogmatischer Gewißheit voraus. Die K. gewinnt «alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung» [30].Daß apriorische Vernunfterkenntnis auf das Feld möglicher Erfahrung eingeschränkt ist, wird in der K. experimentell insofern erprobt, als mit der Annahme dieser These der Widerstreit der Vernunft mit sich selbst wegfällt [31].

    Nun beinhaltet der Kantische K.-Begriff von Anfang an nicht nur Destruktion vermeintlicher Einsichten und Grenzbestimmung der reinen Vernunft, sondern ineins damit das Vorhaben, «den ganzen Umfang der reinen Vernunft» inhaltlich «vollständig und nach allgemeinen Prinzipien» zu umreißen [32]. K. als Prinzipienlehre der Erkenntnis a priori hat aber den Status einer «Propädeutik zum System der reinen Vernunft» [33], ist nicht selbst systematische Doktrin (Metaphysik der Natur und der Sitten). In der Einleitung zur KrV bestimmt Kant diese enger noch als «die vollständige Idee der Transzendental-Philosophie» (die den ersten Teil einer Metaphysik der Natur bilden wird [34]), von der sie sich durch einen minderen Grad an Ausführlichkeit in der systematischen Analysis der reinen Begriffe unterscheidet [35].

    Name und Konzept einer «K. der reinen praktischen Vernunft» erscheinen erstmals in der ‹Grundlegung zur Metaphysik der Sitten› (1785). Obwohl nicht so dringlich wie die spekulative, «weil die menschliche Vernunft im Moralischen selbst beim gemeinsten Verstände leicht zu großer Richtigkeit und Ausführlichkeit gebracht werden kann» [36], bedarf ebenso die praktische Vernunft um der auch ihr eigenen Dialektik willen einer K. [37]. Als Aufgabe einer vollendeten ‹K. der praktischen Vernunft› bestimmt Kant überdies den Ausweis der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft [38]. In der zweiten ‹K.› selbst (1788) wird die – als Faktum begriffene – reine praktische Vernunft von der K. ausgenommen, die vielmehr praktische Vernunft überhaupt mit dem Ziel kritisiert, «die empirisch bedingte Vernunft von der Anmaßung abzuhalten, ausschließungsweise den Bestimmungsgrunddes Willens allein abgeben zu wollen» [39]. Positiv werden analog zur kritischen Prinzipienlehre der spekulativen Vernunft in der K. der praktischen Vernunft «die Prinzipien ihrer Möglichkeit, ihres Umfanges und Grenzen vollständig ohne besondere Beziehung auf die menschliche Natur» angegeben («System der K.» im Unterschied zum «System der Wissenschaft») [40].

    Das dritte, zunächst unter dem Titel ‹Critik des Geschmaks› [41], dann als ‹K. der Urteilskraft› [42] konzipierte Hauptwerk Kants vollzieht eine abschließende Systematisierung der kritischen Arbeit. Der Ausdruck «K. der reinen Vernunft» hat nun eine engere und eine weitere Bedeutung: in der engeren (Titelbegriff des ersten Hauptwerkes) bezeichnet er «eigentlich» die «K. des reinen Verstandes», in der weiteren umreißt er das dreiteilige Konzept «der K. des reines Verstandes, der reinen Urteilskraft und der reinen Vernunft» (letztere in der KpV vollzogen) [43]. Hinsichtlich der K. des Geschmacks (in der «das wechselseitige Verhältnis des Verstandes und der Einbildungskraft zu einander in der gegebenen Vorstellung ..., mithin die Einhelligkeit oder Mißhelligkeit derselben unter Regeln zu bringen und sie in Ansehung ihrer Bedingungen zu bestimmen» ist) unterscheidet Kant jetzt zwischen der Wissenschaft der transzendentalen K., die ein Prinzip a priori der Urteilskraft selbst entwickelt und rechtfertigt, und der bloßen Kunst der kritischen Beurteilung von Produkten der schönen Kunst nach empirischen Regeln des Geschmacks [44].

    Mit der KU sieht Kant sein «ganzes kritisches Geschäft» für beendigt an; es soll die Ausführung des «doktrinalen» folgen (wobei hinsichtlich der Urteilskraft die K. für die Theorie zu nehmen ist) [45]. Auch die Grundlinien einer K. der Religion und der Gesetzgebung [46] sind gezogen. (Religions-K. nach kantischen Prinzipien führen J. G. FICHTE in seinem ‹Versuch einer Critik aller Offenbarung› (1792) [47] und J. H. TIEFTRUNK im ‹Versuch einer K. der Religion und religiösen Dogmatik mit besonderer Rücksicht auf das Christenthum› (1790) sowie, das kritische Geschäft bei der Beurteilung der einzelnen Dogmen fortsetzend, in ‹Censur des christlichen protestantischen Lehrbegriffs nach den Principien der Religions-K. ...› (1791/95) durch, noch bevor KANT selbst – ohne Verwendung des K.-Begriffes [48] – seine ‹Religionsphilosophie› vorlegt.) In die drei ‹K.› ausgefaltet soll philosophische K. für geleistet gelten, sie ist allenfalls der hermeneutischen Nachprüfung bedürftig, dabei aber «nach dem Buchstaben zu verstehen». Die kritische Philosophie müsse sich nach Meinung des alten Kant davon überzeugt fühlen, «daß ihr kein Wechsel der Meynungen, keine Nachbesserungen oder ein anders geformtes Lehrgebäude bevorstehe, sondern das System der Critik auf einer völlig gesicherten Grundlage ruhend, auf immer befestigt, und auch für alle künftige Zeitalter zu den höchsten Zwecken der Menschheit unentbehrlich sey» [49].

 

    Anmerkungen.

 

[1] I. KANT, KrV A XIf.; vgl. B 27.

 

[2] A XII.

 

[3] A XI; A 751/B 779; vgl. A 501/B 529; zu den Hintergründen R. KOSELLECK: K. und Krise. Eine Stud. zur Pathogenese der bürgerl. Welt (1959, TB 1973).

 

[4] KANT, KrV A VIII; B XV. XXXIV.

 

[5] B XV.

 

[6] A 751f./B 779f.; vgl. H. SANER: Kants Weg vom Krieg zum Frieden 1: Widerstreit und Einheit. Wege zu Kants polit. Denken (1967).

 

[7] KANT, KrV B XXXV; vgl. Über eine Entdeckung ... Akad.-A. 8, 226f. und G. S. A. MELLIN: Encyclop. Wb. der krit. Philos. 2 (1799) 147ff.

 

[8] KANT, KrV B XXXV.

 

[9] A 424f./B 451f.

 

[10] A 760ff./B 788ff.

 

[11] Ren. 2665 = Akad.-A. 16, 459.

 

[12] KrV A 11/B 25.

 

[13] A 11f./B 25.

 

[14] A 12/B 26.

 

[15] A 297/B 354; vgl. KU § 69.

 

[16] KrV A XIf.

 

[17] B XXIV; vgl. A 711/B 739.

 

[18] B XXV.

 

[19] B 25; vgl. A 11.

 

[20] B XXIVff.

 

[21] A 501/B 529.

 

[22] A 507/B 535.

 

[23] M. HEIDEGGER: Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen (1962) 96.

 

[24] KANT, KrV A 738ff./B 766ff.

 

[25] A 741/B 769; vgl. A 753f./B 781f.

 

[26] A 298/B 355.

 

[27] B XXXI.

 

[28] A 761/B 789.

 

[29] A 711/ B 739.

 

[30] A 751/B 779; vgl. K. RÖTTGERS: K. und Praxis. Zur Gesch. des K.-Begriffs von Kant bis Marx (1975) 39ff.; anders G. KRÜGER: Der Maßstab der kantischen K. Kantstud. 39 (1934) 156–187, der K. eine teleol.-moral. Met. zugrunde liegen sieht, die in KU begründet wird.

 

[31] KANT, KrV B XVIIIff.; vgl. F. KAULBACH: I. Kant (1969) 111.

 

[32] KANT, Proleg. Akad.-A. 4, 261.

 

[33] KrV A 11/B 25; vgl. B XLIII; A 841/B 869.

 

[34] A 845/ B 873.

 

[35] A 13f./B 27f.; vgl. W. FLACH: Transzendentalphilos. und K. Zur Bestimmung des Verhältnisses der Titelbegriffe in der Kantischen Philos., in: Tradition und K., Zocher-Festschr. (1967) 69–83.

 

[36] KANT, Akad.-A. 4, 391.

 

[37] 4, 405.

 

[38] 4, 391.

 

[39] 5, 16; vgl. 5, 3.

 

[40] 5, 8.

 

[41] Br. an Reinhold (28./31. 12. 1787) = Akad.-A. 10, 514.

 

[42] Br. an Reinhold (12. 5. 1789) = Akad.-A. 11, 39.

 

[43] Akad.-A. 5, 167ff. 179.

 

[44] 5, 286.

 

[45] 5, 170.

 

[46] KrV A XI.

 

[47] J. G. FICHTE, Akad.-A. I/1, 1–162, bes. 113ff.; vgl. II/2, 109ff.

 

[48] Vgl. aber KANT, Der Streit der Fakultäten. Akad.-A. 7, 32f.

 

[49] Akad.-A. 12, 371.

 

 

J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, S.1268-1272.

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