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Kritik (3)

Sur l´eau 2008. 6. 3. 13:25

3. Kritik als Methode. – Die Humanisten kritisierten die spätmittelalterliche Dialektik entschieden und bereiteten so den Boden für eine neue Methodendiskussion – obwohl sie zunächst lediglich auf die ciceronische Form der Dialektik zurückführten [1] –, aber erst PETRUS RAMUS korrigiert die in der aristotelischen Tradition fest gewordenen Unterscheidungen grundsätzlich und greift so über Quintilian auf den stoischen und damit auch auf den recht verstandenen aristotelischen und platonischen Begriff der K. zurück. Durch ihn wird dieser Begriff zum Kennzeichen einer neuen Epoche.

    Auch Ramus geht aus von der Unterscheidung der beiden viae inventionis und iudicii, doch in deren Bestimmung polemisiert er gegen die aristotelische Tradition. Diese hatte seit den großen Kommentatoren die inventio als Dialektik beschrieben und vor allem dem Buch der ‹Topik› zugewiesen sowie das iudicium als Analyse bestimmt und den aristotelischen ‹Analytiken› zugeordnet [2], z.B.: «Ars inveniendi in Topicis et Elenchis, ars autem iudicandi in Prioribus et Posterioribus traditur» [3], was auch noch die an Cicero anknüpfenden humanistischen Dialektiker des 16. Jh. tun, die sich lediglich um die Reihenfolge streiten [4]. Ramus zeigt nun gegen diese Tradition, daß die Unterscheidung von Findung und Urteil nach der «natürlichen Vernunft» immer gelte, «quia naturaliter co gitamus primum quae disserenda sunt, deinde iis dispositis judicamus» (weil wir natürlicherweise zuerst denken, worüber diskutiert werden soll, und dann, indem dies geordnet wird, darüber urteilen) [5]. Er meint auch, daß im aristotelischen Organon diese Unterscheidung sich durchweg finde, sowohl in den ‹Ersten Analytiken› wie in der ‹Topik›, wenn auch die erste Schrift mehr vom Urteil, die zweite mehr von der Findung enthalte [6]. Erst die griechischen wie lateinischen und arabischen Interpreten des Aristoteles hätten dies durcheinandergebracht und diese prinzipielle Einteilung mit der der aristotelischen Bücher verwechselt [7]. Zur Bekräftigung dieser Aristotelesdeutung, die zugleich seine Kritik von 1543 wiedergutmacht, indem sie Aristoteles von seinen Anhängern unterscheidet, beruft er sich auf Cicero und Quintilian und zitiert von dem letzteren die angeführte Stelle aus dem V. Buch der ‹Institutionen› [8]. Damit hat Ramus 1548 die stoische Unterscheidung von τοπική und κριτική wiederaufgenommen. In seinen früheren Rhetorik-Scholien hatte er Quintilian getadelt, daß dieser keine Kunstlehre vom Urteil gelten lassen wolle [9]. Ramus' Dialektik jedenfalls ist berühmt geworden durch die Art ihrer Einteilung in die Lehre von der inventio und von dem iudicium, wobei er vor allem die letztere, die er ab jetzt auch κριτική nennt, weiterentwickelt hat [10].

     Vor allem bestimmt er K. als Analyse, indem er die traditionelle aristotelische Unterscheidung von Analyse und Synthese aufnimmt, sie aber – entsprechend seiner Korrektur an dieser Tradition – inhaltlich gegen diese wendet [11]. Obwohl die Formulierungen mißverständlich sind, auch oft genug mißverstanden wurden, meint Ramus mit ‹Analysis› und ‹Analytik› nicht mehr die entsprechenden Bücher des Organon, sondern eben den Teil der Logik, der das Urteil oder die K. in sich faßt: «Duas partes esse artis logicae ...: topicam in inventione argumentorum ... et analyticam in eorum dispositione» (Es gibt zwei Teile der Kunst der Logik, die Topik in der Findung der Argumente ... und die Analytik in ihrer Anordnung) [12]. Noch deutlicher wird dies in einer Reflexion über den Namen der aristotelischen Analytiken, von denen ihm vor allem die ‹Zweiten Analytiken› als Methodenlehre ihren Namen zu Recht zu tragen scheinen, «de cuius nominis ratione commodius fuit dicere analysi priore, ut analysis non aliud esset Aristoteli, quam Logicis recentioribus κρίσις, judicium, et Analytica veluti κριτική nominari, quia judicium maxime analysi fiat» (über den Grund von deren Namen es angemessener als bei der Ersten Analytik war, zu sagen, daß Analyse für Aristoteles nichts anderes war als bei den neuen Logikern Krisis, Urteil, und sie Analytik oder K. zu nennen, weil das Urteil am meisten durch die Analyse geschieht) [13]. Analyse nämlich ist für Ramus nach dem Vorbild seines Lehrers J. Sturm die Auflösung und Prüfung von vorgelegten Beispielen oder Problemen: «Analysis, i.e. resolutio, cum facta disputatio retexitur et partibus suis examinatur» (Analysis, d.h. Auflösung, wenn eine gemachte Untersuchung aufgelöst und in ihren Teilen geprüft wird) [14].

    Solch eine Analyse gibt es nun nach Ramus für alle Gebiete des Trivium, für die Grammatik, die Rhetorik und also auch für die Logik, und das Besondere der aristotelischen Analytiken liegt für ihn darin, daß sie eine solche Analyse der Logik selbst geben, also eine Logik der Logik [15]. Insofern gibt es für ihn nur eine einzige Methode, die analytische, die in diesem methodologischen Sinn die ganze Logik umfaßt, weil sie überall die Teile vom Allgemeinen, dem der Natur nach Früheren, ableitet und darum die Vielfalt der sonst genannten Methoden ersetzt [16]. Darum heißt ihm «diese Analysis Logik, deren erster Teil die Anwendung (in Beispielen) ist ..., deren zweiter Teil, der bei den jüngeren Griechen (also wohl den Stoikern) K. genannt ist, unzweifelhaft nach der Art der Analytik benannt wird» (haec, inquam, analysis est logica, logicae exercitationis prima pars ... non dubito dicere, Logicae secundam partem, quae dicta est a recentioribus Graecis κριτική modo ἀναλυτικῆς nominari [17]). Damit hat sich das Methodenpaar der viae in ventionis und iudicii allerdings entscheidend verändert, und die Unklarheit des Ramus rührt nur noch daher, daß der Gebrauch von Logik und Methodologie (wie überall in jener Zeit) durcheinander geht. Alle Vorschriften der Logik sind darum auf die Analysis zu beziehen. So wie die anderen artes liberales darin ihre Aufgabe haben, Beispiele zu geben und diese dann zu analysieren, so auch die Logik: So bekennt er von sich, daß er ein guter Aristoteliker sei, «qui logicam totam artem ad analysim refero; qui nullum in logica arte praeceptum esse volo, quod non valeat ad poetas, oratores, philosophos, omnisque generis scriptores, omnes denique omnium hominum sententias vel scriptas vel dictas retexendum, explicandum, interpretandum, judicandum: id est, quod non sit analyticum» (der die ganze logische Kunst auf die Analyse bezieht; der keine Vorschrift in der Kunst der Logik dulden will, die nicht dazu taugt, Dichter, Redner, Philosophen und Schriftsteller jeglicher Art, endlich alle Meinungen, ob geschrieben oder gesprochen, aller Menschen zu entwirren, zu erklären, zu interpretieren, zu beurteilen: das heißt, die nicht analytisch wäre) [18].

    In zwei Richtungen entwickelt sich von hier aus der Begriff der K., entsprechend der Zweideutigkeit, in die Ramus die Logik als Analyse hüllt: Zum einen wird Analyse als Interpretation im Sinne der K., bald auch im ausdrücklichen Gebrauch dieses Wortes bei den Ramisten verwendet, deren Wirkung vor allem in England und Deutschland, besonders an reformierten Universitäten und Schulen, bis zum Ende des 17. Jh. groß war [19]. GOCLENIUS berichtet, daß ‹K.› durch die Ramisten ein fester Terminus für ‹judicium› (im Gegensatz zu inventrix) geworden sei [20]. In seinen ‹Problemata logica› gibt er die übliche Zweiteilung der partes wieder und fügt für judicium das griechische Äquivalent κρίσις hinzu. Für diese Teilung nennt er als Herkunft die Stoiker, CICEROS Topik und die zitierte Stelle aus dem 5. Buch der ‹Institutionen› QUINTILIANS [21]. Entsprechend wird ‹Analyse› z.B. in der Anwendung der Logik für Juristen durch einen englischen Ramisten bestimmt: «in discussing perusing, searching and examining what others have either delivered by speach or put downe in writing ... this is called Analysis» [22]. Analysis kann in der ramistischen Schule denn auch als Synonym für die Interpretation oder kritische Prüfung eines Textes gebraucht werden, z.B. in J. PISCATORS ‹Analysis logica Evangelii secundum Matthaeum› (1606) [23].

    Aber entscheidend war wohl, daß J. C. SCALIGER in seinen ‹Poetices libri septem› von 1561 den ramistischen Sprachgebrauch aufgenommen hat. Im ersten Buch spricht er über die Bedeutung der K.: «Verum nihil non audent iudicare Grammatici: postquam arti suae tertiam partem κριτικὴν adiecere» (wahrhaftig über nichts wagen die Grammatiker [also die Philologen] nicht zu urteilen, nachden sie ihrer Kunst als dritten Teil die K. hinzugefügt haben) [24]. (Dies bezieht sich auf die ursprüngliche Dreiteilung der Dialektik Ramus', deren dritter Teil 1543 noch als exercitatio angehängt wurde – eben «die Interpretation von Dichtern, Rednern, Philosophen und allen Künsten» –, später aber als die genannte Analysis fürs Ganze steht und daher als gesonderter Teil der Dialektik wegfiel [25].) Doch dieses Urteil will Scaliger nicht den Grammatikern überlassen, sondern nimmt es für das Amt des «Ersten Philosophen», bei dem das «ius omnium scientiarum» liege, in Anspruch [26]. Wichtiger als diese Erwähnung wird aber, daß der praktische Teil seiner Poetik, die Bücher V und VI, in denen antike und neuere Autoren miteinander verglichen und beurteilt werden, unter den Titeln ‹criticus› und ‹hypercriticus› stehen. Damit war durch die für die beiden nächsten Jh. wirksamste Poetik die Ausbreitung des Begriffs der K. im Sinne der Rhetorik- und Poetik-K. gesichert.

    Zum anderen wird ‹Analyse› als Begriff der Methodologie noch näher bestimmt, vor allem nachdem die Definition der analytischen Methode durch PAPPUS 1589 durch Übersetzung ins Lateinische bekannt ge worden war [27] und nachdem daran anschließend im Umkreis Descartes' eine neue Methodendiskussion eingesetzt hatte [28]. Dieser zweite methodologische Begriff der K., dessen Nähe zum ersten in manchen Bestimmungen der Schulphilosophie des 18. Jh. (vor allem in der ‹Ästhetik› BAUMGARTENS) und in KANTS ‹K. der Urteilskraft› nur noch durchschimmert, in anderen methodologischen Überlegungen der Cartesianer und der Aristoteliker sich aber ganz deutlich zeigt, soll als der grundlegende zuerst beschrieben werden. Der chronologischen Ordnung nach stehen beide Bedeutungen ohne eindeutige Abhängigkeit nebeneinander.

    Descartes' vier Regeln zur Methode der Invention im ‹Discours de la Méthode›, die er an die mathematische Analyse anschließt [29], werden von P. BAYLE in etwas anderer Weise gebraucht, indem er Descartes' Forderung nach Evidenz auf die Geschichte anwendet und nun verlangt, jeweils Gründe abzuwägen und sich nicht durch Übereilung und Vorurteile verführen zu lassen [30]. Diese Anwendung der Methode läßt ihn dann 1692 in seinem Entwurf zu einem ‹Dictionnaire historique et critique› seine historische K. mit den mathematischen Wissenschaften vergleichen: «Eben dieselben Ursachen, welche die Nutzbarkeit der anderen Wissenschaften beweisen, beweisen auch die Nutzbarkeit der critischen Untersuchungen» [31].

          Doch abgesehen von dieser Anwendung der cartesianischen Methodenreflexion, die ja auch eher einen Mißbrauch darstellt [32], gibt es auch eine genaue Berufung auf die Überlegungen Descartes' zur analytischen Methode, die dann dazu führte, daß VICO 1709 die Analysis der Geometer als «nova critica» bezeichnete und in einer Übertragung der «Querelle des anciens et des modernes» auf die Methoden der Wissenschaften die Methode der neueren Wissenschaft ganz allgemein mit K. gleichsetzte [33]. Vico beruft sich vor allem auf die ‹Logique de Port-Royal›, die, 1662 erschienen, in der Tat die cartesianische Methodenlehre allgemein machte. Diese Logik räumte mit der dialektischen Einteilung von inventio und iudicium gründlich auf; sie griff Ramus – den sie wohl mit den Ramisten ineinssetzte – und Aristoteles, Cicero, Quintilian zugleich an, sie attackierte aber vor allem deren Methode der Invention, denn dafür genügten «l'esprit et le sens commun» ohne irgendeine Methode [34]. Dagegen stellte die Logik ARNAULDS die Analyse als «methode d'invention». Deren Verfahren, die Analyse der Geometer nach Pappus und Descartes, benennt Arnauld nun noch nicht mit dem Namen der K. wie Vico, er beschreibt aber ihr Vorgehen – das Vorgebrachte als wahr anzunehmen und zu zerlegen, indem man es auf Prinzipien oder schon Bekanntes zurückführt [35] – durch den Begriff ‹examen›, der für ‹resolutio› bei Pappus steht [36]. So kann er dann allgemein sagen: «Lors donc qu'on a bien examiné les conditions qui designent et qui marquent ce qu'il y a d'inconnu dans la question, il faut ensuite examiner ce qu'il y a de connu ... Or c'est dans l'attention que l'on fait à ce qui est de connu dans la question que l'on veut resoudre, que consiste principalement l'Analyse, tout l'art estant de tirer de cet examen beaucoup de veritez qui nous puissent mener à la connoissance de ce que nous cherchons» [37].

    An diese Bemerkungen über die Methode zur Findung des Wahren in der Unterscheidung vom Falschen oder Unbekannten knüpft VICO fast mit den gleichen Worten an, wenn er die Methode der Neueren (der Cartesianer) als K. bestimmt: «A critica hodie studia inauguramur: quae, quo suum primum verum ab omni, non solum falso, sed falsi quoque suspicione expurget, vera secunda et verisimilia omnia aeque ac falsa mente exigi iubet» (heute beginnen wir unsere Studien mit der K., die, um ihr erstes Wahres von allem, nicht nur vom Falschen, sondern auch vom bloßen Verdacht des Falschen, zu reinigen, alles, was bloß abgeleitet wahr und wahrscheinlich ist, ebenso wie das Falsche aus dem Geist zu entfernen befiehlt) [38]. In welcher weiteren historischen Vermittlung bei Vico der Begriff der Analyse sich zu dem der K. gewandelt hat, ist noch weitgehend unerforscht [39]. Ein gewisser Einfluß mag vom Cartesianismus der Zeit ausgegangen sein, der durch M. FARDELLA auch in Neapel vertreten war [40]. Immerhin stellt VICO im 3. Kapitel seines Büchleins die K. Ciceros an der stoischen Dialektik dar, kennt natürlich als Rhetorikprofessor auch seinen Quintilian und andere antike Quellen dieser Diskussion, schreibt daher den Stoikern die K., den Akademikern die Topik zu und stellt Arnauld mit der Stoa den Anhängern der Topik gegenüber [41]. So wäre es leicht und zwanglos denkbar, daß er in Anknüpfung an diese Auseinandersetzung und bei Berücksichtigung der Unterscheidungen der ramistischen Logik wie selbstverständlich für den Begriff der Analyse den der K. gebrauchte, ohne daß er dies ausdrücklich hätte einführen müssen [42].

    In dieser frühen Schrift stellt Vico der K. die Topik als vorangehend gegenüber, so wie die inventio früher ist als die «diiudicatio», die über deren Wahrheit urteilt, und bewegt sich damit, wie er weiß, ganz in den Bahnen der zeitgenössischen aristotelischen Dialektik [43]. Er selber sucht allerdings beide Methoden, die reichhaltige der Topik und die wahrheitsgetreue der K., zu verbinden. Dies geschieht genauer in der späteren Schrift über die ‹Scienza nuova› (11725). Dort geht er aus von der philologischen K., die die Taten der menschlichen Willkür bloß betrachtet habe. Demgegenüber entwickelt Vico jetzt «una nuova arte critica» oder auch «critica filosofica», eben die Methode der «scienza nuova», die aus einer «Geschichte der menschlichen Ideen» entspringt und «die Wahrheit über die Gründer der Nationen beurteilt», von der Mythologie bis zur jetzigen Entwicklung der Völker und der Wiederkehr der menschlichen Dinge [44]. Diese «metaphysische kritische Kunst» wendet die analytische Methode der Geometrie auf die Geschichte an und rekonstruiert derart die göttliche Vorsehung [45].

    Zwar hatte Vico wenig Wirkung im 18. Jh. [46], aber ein gewisser Einfluß seiner letzten Konzeption der K. wirkte sich durch den Erfolg seines Schülers A. GENOVESI doch aus, der 1745 eine Logik erschienen ließ, die er ‹Ars logico-critica› nannte: «Logica est critica et dialectica», denn «iungenda est dialectica, quae ratiocinium format, cum critica, quae nos de aliorum auctoritate et sensu iudicare docet» [47]. K., die derart als kritische Zergliederung gegebener Gedanken verstanden wird, bildet sich allerdings schon bald nach Descartes' Grundlegung einer neuen Methode als Korrektur an der cartesianischen Logik heraus. CLAUBERG ergänzte 1654 die cartesianische Logik durch eine «Logica analytica», die als Beurteilungskunst schon geformter Gedanken eine be rechtigte Form der aristotelischen Logik, wie er meinte, weiterführte [48]. Dadurch ergibt sich für ihn eine Vierteilung der Logik: der erste Teil «docens, quomodo quis suas cogitationes ... recte possit formare», der zweite Teil «docens, quomodo quis suas cogitationes ... aliis hominibus possit explicare», der dritte Teil «de vero orationis obscurae sensu investigando», der vierte Teil «in qua hominum conceptus ... ad rectae rationis stateram [zur Vernunftabwägung] appenduntur» [49]. Folgenreich wurde diese Einteilung dadurch, daß der erste Teil zwar etwa der cartesianischen Methode der Invention entsprach, die beiden folgenden Teile aber Neues behandeln, indem sie äußere Rede beurteilen, und darum den in diesem Zusammenhang neuen Namen ‹Hermeneutica› erhalten (im gleichen Jahr erscheint ‹Hermeneutik› zum ersten Mal als Buchtitel [50]); der letzte Teil bezieht sich auf den ersten: was dieser «in genesi» behandelt, untersucht jener «in analysi» [51]. Nun wird nach dieser Anordnung die K. zwar in den dritten Teil gesetzt, ein Kapitel heißt: «Author, prius ipse inspiciendus, per alios etiam porro explicatur: nempe per criticos et correctores ...» [52], aber in dieser K. geht es um die übliche philologische K., die als solche natürlich zur Hermeneutik gehört. Der letzte Teil dagegen, den er «Analysis κατ' ἐξοχήν» nennt und der ihm als «Logica potiori jure» gilt [53], enthält das, was nach Ramus' Urteil die Analysis als K. auszeichnete: die Überprüfung aller Erkenntnis; Clauberg nennt die Aufgabe dieses Teils auch «examen analyticum» [54]. Bohatec bemerkt, «daß fast alle späteren Lehrbücher der Logik von (Claubergs Logik) abhängig sind», allerdings ändern sich die Bezeichnungen: T. GOVEANUS nennt in seiner ‹Ars sciendi sive logica› von 1681 den vierten Teil, die eigentliche Analytik, «Critica sive elenchtica», bei anderen heißt er «Dia-K.» [55]. Noch 1779 wird eine deutsche Logik eingeteilt in «heuristica» (über Ideen und Invention), «critica» (über die verschiedenen Arten des Urteils), «epidictica» (über die Syllogismen) und «methodica» (über die Mitteilung der Wahrheit) [56]. An diesen nun bald endgültig erkenntnistheoretisch gewordenen Gebrauch des Begriffs ‹K.› als Teil oder Ersatz der Logik knüpft eine wichtige Tradition des 18. Jh. an, die zu Kant hinführt.

    Schon J. LOCKE faßt zum Abschluß seines ‹Essay concerning Human Understanding› die Aufgaben und Teilung der Wissenschaften zusammen und gibt besonders Auskunft über seine neue Untersuchung der Erkenntnis: hatte er zum Schluß des ersten Buches des ‹Essay› die Aufgabe genannt: «that they examined the ways whereby men came to the knowledge of many universal truths»; so bezeichnet er jetzt seine entwickelte Theorie als «another sort of logic and cri tic, than what we have been hitherto acquainted with» [57].

    Diese Bezeichnung eines Teils der Logik als K. geht nun in die Schulphilosophie ein. Sie übernimmt dabei aber auch Aufgaben in methodischer Weise, die sonst der mehr regellosen Kunst- und Literatur-K. überlassen waren. So versteht beispielsweise GOTTSCHED, dessen ‹Versuch einer erfrischen Dichtkunst› von 1730 schon dem Namen nach, aber auch ausdrücklich an eine K. in einem ganz anderen Sinne anknüpft [58], unter «Kriticus oder Kunstrichter» einen Philosophen, der vor allem die Regeln der beurteilten Kunst beachten müsse und darum deren «Grund anzeigen kann» [59]. Unter Berufung auf Shaftesbury wehrt er die K. der «Freunde des willkührlichen Geschmacks» ab und hebt die «Regeln der Kunstrichter» hervor [60]. A. G. BAUMGARTEN, der die neue Methode konsequent auch auf den Bereich der Kunst anwendet und derart 1750 eine neue Disziplin, die Ästhetik, schafft, stellt dieser «ihre ältere Schwester, die Logik» [61] gegenüber. Zu dieser gehört nach ihm auch die K., aber als eine andere Form: «est etiam critica logica, quaedam critices species est pars aesthetices» (auch die K. ist eine Logik [nämlich wie die Ästhetik], eine gewisse Art der K. ist ein Teil der Ästhetik) [62]. Logik, Ästhetik und K. sind also nicht dasselbe, die letzteren beiden gehören aber als Teile in die Logik. In seiner ‹Metaphysik› von 1739 hatte er die Unterscheidungen gemacht, die Gemeinsamkeit und Differenz deutlich werden lassen. Dort hatte er innerhalb der «facultas cognoscitiva inferior», deren Wissenschaft die «Ästhetik» ist (§ 533), das Urteil als die Fähigkeit bestimmt, mit der man Vollkommenheit und Unvollkommenheit von Dingen beurteilt (facultas diiudicandi). Diese nennt er, wenn sie kunstmäßig ausgebildet ist, auch K.: «Critica latissime dicta est ars diiudicandi». Nun differenziert er aber danach, ob Sinnliches oder Geistiges beurteilt wird: Das erste beurteilt die ästhetische K., eben die Ästhetik, wie er durch den Bezug auf § 533 deutlich macht, «hinc ars formandi gustum, s. de sensitive diiudicando ... est aesthetica critica». Das zweite wird von einer anderen Kunst beurteilt, die K. im weiteren Sinne, als einer Art Erkenntnis-K. überhaupt: «Critica significatu generali est scientia regularum de perfectione vel imperfectione distincte iudicandi» [63].

    Nun sind die Bestimmungen und Einteilungen des Verhältnisses von Logik und K., wie sie durch Ramus und Clauberg geformt worden waren – als das Verhältnis von Logik und einer Art Erkenntnistheorie nämlich – festgeworden und führen konsequent und zwanglos auf den Kantischen Gebrauch von ‹K.› in seinen Hauptschriften. Auch J. H. LAMBERT, der Korrespondent Kants aus dem Jahre 1765, mit dessen Bemühungen Kant so ganz einverstanden war, gebraucht den Begriff der K. in diesem Claubergschen Sinn. Er bezeichnet «Critik» als üblichen Zusatz zur Vernunftlehre (dem Namen für Logik im 18. Jh.) und bestimmt ihren Ort bei einer der möglichen Einteilungen der Logik, die vorgenommen werden könnten: «in Absicht auf die Vergleichung der Praxis mit der Theorie, wohin die Critik oder Beurteilungskunst gehöret, die Regeln gibt, unsere Erkenntnis mit den Wahrheiten selbst zu vergleichen» [64]. Diese lange Tradition des methodologischen Begriffs der K. galt im 18. Jh. noch so selbstverständlich, daß Kant den Titel seiner drei ‹Kritiken› nicht eigens einzuführen brauchte, sondern ganz natürlich die ‹K. der reinen Vernunft› einerseits als Traktat von der Methode schreiben, andererseits – den Intentionen der Aufklärung folgend – sein Zeitalter als das der K. bezeichnen konnte, der sich alles zu unterwerfen hat. Beide Weisen der K. haben seiner Philosophie den Rang einer eminent kritischen verliehen.

 

    Anmerkungen.

 

[1] Zu L. Valla und R. Agricola, vgl. PRANTL, a.a.O. [18 zu 2] 4, 161ff.; vgl. W. RISSE: Die Logik der Neuzeit 1 (1964) 10ff. bes. 15ff.

 

[2] Vgl. z.B. PRANTL, a.a.O. 1, 622f. 644f.; 4, 253f.; vgl.

 

Art. ð ‹Analyse/Synthese›.

 

[3] Aegidius Romanus bei PRANTL, a.a.O. [18 zu 2] 3, 259.

 

[4] RISSE, a.a.O. [1] 18f. 89f.

 

[5] P. RAMUS, Schol. dial. II, 8, in: P. RAMI: Scholae in liberales artes (Basel 1569, ND 1970) 53; die Scholae dialecticae sind nach dem Vorbericht des Hg. identisch mit den Animadversionum Aristotelicarum libri viginti von 1548.

 

[6] a.a.O. 54f.

 

[7] a.a.O. II, 9 = 58ff.

 

[8] II, 8 = 57; vgl. QUINTILIAN, Inst. orat. V, 14. 27ff.

 

[9] RAMUS, Scholae rhetoricae XV = 363; vgl. QUINTILIAN, a.a.O. [8] VI, 5, 1f.

 

[10] Vgl. RISSE, a.a.O. [1] 130ff.

 

[11] Vgl. H. SCHEPERS: Andreas Rüdigers Methodol. und ihre Voraussetz. (1959) 18ff. bes. 24.

 

[12] RAMUS, a.a.O. [5] IX = 305.

 

[13] a.a.O. 315.

 

[14] Dialectica (1566) 149, bei RISSE, a.a.O. [1] 137; vgl. 44.

 

[15] RAMUS, a.a.O. [5] VII, 1 = 191f.

 

[16] a.a.O. IX, 1 = 327ff.; vgl. N. W. GILBERT: Renaissance concepts of method (New York 1960) 125. 131ff.; vgl. RISSE, a.a.O. [1] 147ff.; W. J. ONG: Ramus. Method and the decay of dialogue (Cambridge, Mass. 1958) 112ff. 171ff.

 

[17] RAMUS, a.a.O. [5] VII, 1 = 193.

 

[18] a.a.O. 194.

 

[19] Vgl. RISSE, a.a.O. [1] 163ff.; ONG, a.a.O. [16] 295ff.; Ramus and Talon inventory (Cambridge, Mass. 1958); W. S. HOWELL: Logic and rhetoric in England, 1500–1700 (Princeton 1956).

 

[20] R. GOCLENIUS: Lex. philos. graec. (1615 ND 1964) 123; vgl. Lex. philos. (1613, ND 1964) 492.

 

[21] Problemata logica 1, 7 (1597, ND 1967) 48.

 

[22] A. FRAUNCE: The lawiers logike (London 1588), zit. bei HOWELL, a.a.O. [19] 249; vgl. 222f.

 

[23] RISSE, a.a.O. [1] 137.

 

[24] J. C. SCALIGER: Poetices libri septem I, 5 (1561, ND 1964) 11.

 

[25] P. RAMUS: Dial. Inst. (1543, ND 1964) 43f.; vgl. a.a.O. [18]; vgl. RISSE, a.a.O. [1] 139f.

 

[26] SCALIGER, a.a.O. [24].

 

[27] GILBERT, a.a.O. [16] 82.

 

[28] SCHEPERS, a.a.O. [11] 18ff.; Art. ‹Analyse/Synthese› 235f. 241f.; v. BORMANN, a.a.O. [23 zu 1] 100ff.

 

[29] R. DESCARTES, Discours de la Méthode II, hg. É. GILSON (1967) 18f.; vgl. 187ff.

 

[30] P. BAYLE, Oeuvres diverses (Den Haag 1731, ND 1968) 4, 256; vgl. E. LABROUSSE: Relig., érudition et critique à la fin du 17e siècle et au début du 18e (Paris 1968) 53ff. bes. 62ff.

 

[31] P. BAYLE: Hist. und krit. Wb., hg. J. CHR. GOTTSCHED (1744) 4, 625.

 

[32] LABROUSSE, a.a.O. [30] 66.

 

[33] G. B. VICO: De nostri temporis studiorum ratione (1708) bes. Kap. 1–3, hg. W. F. OTTO (1947, ND 1963) 16. 20. 26ff. u.ö.; vgl. v. BORMAN, a.a.O. [23 zu 1] 105f. 173.

 

[34] L'art de penser. La Logique de Port-Royal 1 (1662, ND 1965) III, 15.

 

[35] GILBERT, a.a.O. [16] 82.

 

[36] L'art de penser a.a.O. [34] IV, 1 = p. 306.

 

[37] a.a.O. 2 (1683, ND 1967) IV, 2 = 212.

 

[38] Vico, a.a.O. [33] Kap. 3, 26.

 

[39] Vgl. aber Y. BELAVAL: Vico and anti-cartesianism, sowie M. H. FISCH: Vico and Pragmatism, in: G. Vico. Int. Sympos., hg. G. TAGLIACOZZA (Baltimore 1969) 77–91. 401–414.

 

[40] RISSE, a.a.O. [1] 2, 123f.

 

[41] Vico, a.a.O. [33] Kap. 3, bes. 30ff.

 

[42] Vgl. für die zahlreichen Einflüsse auf Vico: R. WELLEK: The supposed influence of Vico on England and Scotland in the 18th century, in: G. Vico ... a.a.O. [39] 218ff.; E. GRASSI, Crit. philos. or topical philos. a.a.O. [39] 49.

 

[43] Vico, a.a.O. [33] Kap. 3, 28f. 32f.

 

[44] La scienza nuova seconda. Opere, hg. F. NICOLINI (1942) IV, I, §§ 392f.; vgl. § 7; dtsch. Die Neue Wiss., übers. und hg. E. AUERBACH (1924) 163f. 48f.

 

[45] a.a.O. §§ 348ff. = dtsch. 138f.

 

[46] WELLEK, a.a.O. [42] 218.

 

[47] E. de MAS: Vico and Ital. thought, in: G. Vico ... a.a.O. [39] 149ff.; zit. bei: RISSE, a.a.O. [1] 2, 358.

 

[48] J. CLAUBERG: Defensio cartesiana (1652) Kap. 17. Opera omnia philos. (1691, ND 1968) 998; Logica vetus et nova (1654) Proleg. Kap. 6 = 779f.; vgl. RISSE, a.a.O. [1] 2, 58ff.

 

[49] CLAUBERG, Logica ... a.a.O. 784. 817. 843. 866.

 

[50] J. C. DANNHAUER: Hermeneutica sacra sive methodus exponendarum sacrarum litterarum (1654), bei: L. GELDSETZER: Einl. zu G. F. MEIER: Versuch einer allg. Auslegungskunst (ND 1965) Xf.

 

[51] CLAUBERG, Logica ... a.a.O. [48] Proleg. Kap. 6 = 780f.; vgl. J. BOHATEC: Die cartes. Scholastik (1912, ND 1966) 92f.

 

[52] CLAUBERG, Logica ... a.a.O. III, Kap. 6 = 859.

 

[53] a.a.O. IV, Kap. 1 = 867.

 

[54] IV, Kap. 3 = 870; Kap. 14 = 897ff.

 

[55] BOHATEC, a.a.O. [51] 96f.; zu Goveanus vgl. RISSE, a.a.O. [1] 2, 444f.

 

[56] G. MEHLER: Institutiones logicae, heuristicae, criticae, epidicticae, methodicae (Wetzlar 1779); dank eines Hinweises von G. TONELLI.

 

[57] J. LOCKE: An essay conc. human understanding (1690), hg. A. C. FRASER (ND 1959) I, 3, 25; IV, Kap. 11, 4.

 

[58] J. C. GOTTSCHED: Versuch einer crit. Dichtkunst (41751, ND 1962) XXVIff.: Vorrede zur 2. Aufl.

 

[59] a.a.O. XXX, 96.

 

[60] 222ff. Anm.

 

[61] A. G. BAUMGARTEN: Aesthetica (1750, ND 1961) § 13.

 

[62] a.a.O. §§ 5. 583.

 

[63] Met. (11739, zit. 1779, ND 1963) §§ 606. 607.

 

[64] J. H. LAMBERT, Philos. Schr., hg. H. W. ARNDT, 6, 184. 188.

 

C. v. BORMANN

 

 

J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, S.1255-1262.

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