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Kritik (1)

Sur l´eau 2008. 6. 3. 13:08

Kritik (griech. κριτική (τέχνη); im klass. Lat. dafür meist iudicium bzw. ars iudicandi, critica nur als Adj. belegt; ital. critica, frz. critique; engl. criticism)

    I. Die Geschichte des K.-Begriffs von den Griechen bis Kant. – 1. Die Differenzierung der ursprünglichen Wortbedeutung. – ‹K.› leitet sich vom griechischen Wort κριτική (sc. τέχνη) her, das zunächst noch nicht in terminologischer Verfestigung zusammen mit anderen Ableitungen dieses Stammes wie κρίνειν, κρίσις, κριτήριον, κριτής gebraucht wird, wobei die Bedeutung von «beurteilen» oder «entscheiden» in ethisch-politischer und juristischer Hinsicht, aber auch ganz allgemein im unterscheidenden Wahrnehmungsurteil oder Denkakt überwiegt [1]. Daraus bildet sich bei den Medizinern ein terminologischer Gebrauch vor allem des Wortes κρίσις, aber auch von κρίσιμος und κριτικός, der den entscheidenden Wendepunkt einer Krankheit meint [2]. In der hellenistischen Zeit nimmt das Wort κριτικός einen spezifischen Sinn an, der es vor allem auf das philologische Anwendungsgebiet festlegt [3].

    Ins Lateinische wird es als ‹criticus› mit dieser philologischen und jener medizinischen Bedeutung übernommen [4]. Mit diesen Konnotationen, zu denen noch ein durch die stoische Logik bestimmter terminologischer Wortsinn kommt, der in die humanisti sche Logik des 16. Jh. hineinreicht und breite Wirkung in der ramistischen und cartesianischen Logik entfaltet, wird der Begriff im 17. Jh. in die Nationalsprachen übernommen [5], in das Deutsche zum Ende des Jh. vom Französischen her, daher die Betonung auf der zweiten Silbe [6].

    Zwar werden die Derivate vom Wortstamm κριν- wie κρίνειν, κρίσις usw. bei den Vorsokratikern und bei Platon noch ganz in der oben genannten allgemeinen Bedeutung eines Unterscheidungsvermögens überhaupt gebraucht, etwa als «unterscheiden des Wahren» (mittels der Sinne) (κρίνειν τἀληθές) [7] oder auch als «unterscheidendes Werkzeug des göttlichen Weltschöpfers», als welches die Pythagoreer die Zahl ansahen: ἀριθμὸν ... παράδειγμα πρῶτον κοσμοποιίας καὶ πάλιν κριτικὸν κοσμουργοῦ θεοῦ ὄργανον [8]. Doch die Beschreibung des Erkenntnisprozesses in der Metapher eines Rechtsprozesses [9] bei PLATON deutet schon eine terminologische Verdichtung von κρίνειν zur kritisch unterscheidenden Erkenntnis an. Daher besteht die Hebammenkunst des Sokrates im Unterschied zu der einer gewöhnlichen Hebamme darin, zu unterscheiden, ob das Denken des Jünglings Falsches oder Wahres gebiert (τὸ κρίνειν τὸ ἀληθές τε καὶ μή), und das Falsche auszuscheiden [10].

    Bei Platon begegnet denn auch zuerst der Terminus  ἡ κριτική in einem genauen philosophischen Sinn, und zwar im ‹Politikos›. Gleich zu Anfang des Dialogs wird eine Dihairese von Erkenntnis (ἐπιστήμη) vorgenommen, um das Wesen der Politik zu bestimmen, und danach zunächst die gesamte Erkenntnis in zwei Arten eingeteilt: in die praktische und die erkennende als solche (γνωστική) [11]. Diese letztere, der auch die Politik zugerechnet wird, wird dann weiter aufgeteilt. Am Beispiel der Baukunst zeigen die Dialogpartner, daß dazu einerseits die Rechenkunst (ἡ λογιστικὴ τέχνη) gehört, deren Aufgabe es ist, τὰ γνωσθέντα κρῖναι (das Erkannte – die Unterschiede in den Zahlen – zu beurteilen) [12], andererseits die Anweisungen an die Arbeiter: beide unterscheiden sich nur durch Beurteilung und Anordnung (κρίσει δὲ καὶ ἐπιτάξει διαφέρετον) [13]. So wird dann das gesamte Gebiet der erkennenden Wissenschaft in zwei Teile geteilt, den anweisenden Teil und den beurteilenden (τὸ μὲν ἐπιτακτικόν μέρος, τὸ δὲ κριτικόν), welch letzterer dann auch als ἡ κριτικὴ τέχνη beschrieben wird, in der man sich theoretisch wie ein Zuschauer (θεατής) verhält [14]. Die Dihairese wieder zusammenfassend wird später die Politik als königliche Herrschaft derart durch die κριτική und ἐπιστατικὴ ἐπιστήμη (beurteilende und vorstehende Wissenschaft) bestimmt [15], die ausgeübt wird von dem «mit Einsicht königlichen Mann» (ἀνήρ ὁ μετὰ  φρονήσεως βασιλικός) [16].

    Diese platonischen Unterscheidungen, in denen sich die alten Bedeutungen von κρίνειν als allgemeines Unterscheidungsvermögen und als ethisch-politische und richterliche Urteilskraft widerspiegeln, werden von ARISTOTELES aufgenommen und weitergebildet. Die letztere dient ihm geradezu als Definiens für den Bürger: «Wem die Teilnahme an der beratenden und richtenden Staatsgewalt offensteht, nennen wir Bürger» (ᾧ γὰρ ἐξουσία κοινωνεῖν ἀρχῆς βουλευτικῆς καὶ κριτικῆς, πολίτην ἤδη λέγομεν εἶναι...) [17]. Doch auch darin kommt schon zum Ausdruck, daß das Richten nicht in einem zu engen technischen Sinn gemeint ist, sonst würde Aristoteles vom Richter als δικαστής sprechen [18].

    Deutlicher wird dies in den Ausführungen der Ethik. Aristoteles unterscheidet zum Schluß des 6. Buches der ‹Nikomachischen Ethik› von der ethischen Klugheit (ἡ φρόνησις) als der «anordnenden» Tätigkeit der Klugheit (ἡ μὲν γὰρ φρόνησις ἐπιτακτική ἐστιν) [19] die anderen dianoetischen Tugenden des Verständnisses (σύνεσις), der Einsicht (γνώμη) und der Nachsicht (συγγνώμη) [20]. Diese haben nun im Gegensatz zur ethischen Klugheit nur urteilende Funktion: «Das Verständnis beschränkt sich auf kritisches Urteilen» (ἡ δὲ σύνεσις κριτικὴ μόνον) [21], aber auch «die Nachsicht ist eine Einsicht als richti ges Vermögen der K. über das, was billig ist» (ἡ δὲ συγγνώμη γνώμη ἐστὶ κριτικὴ τοῦ ἐπιεικοῦς ὀρθή) [22]. Aber das heißt nun nicht, daß K. der anordnenden Klugheit einfach gegenübergestellt wird wie bei Platon, der sich an dem Modell der τέχνη (im Beispiel der Baukunst) orientiert, sondern bei Aristoteles gehen Klugheit und K. auf denselben Bereich der Praxis: Klugheit gibt dem Handelnden die Orientierung als ethische Haltung, K. beurteilt in reflexiver Sicht diese Orientierung, «denn in jenen Dingen die Fähigkeit zum kritischen Urteil haben, in denen es auf ethische Klugheit ankommt, heißt verständig und einsichtig bzw. nachsichtig sein» (καὶ ἐν μὲν τῷ κριτικὸς εἶναι περὶ ὧν ὁ φρόνιμος, συνετὸς καὶ εὐγνώμων ἢ συγγνώμων) [23].

    ‹K.› in seiner allgemeinen Bedeutung als Bezeichnung für ein erstes Unterscheidungsvermögen wird ebenfalls von Aristoteles gebraucht. Zum Schluß der ‹Zweiten Analytiken› untersucht er, wie Wissen entsteht, und bedient sich dazu einer überlieferten Rangfolge der Erkenntnisse: Wahrnehmung (αἴσθησις), Erinnerung (μνήμη), Erfahrung (ἐμπειρία), Fertigkeit (τέχνη), Wissen (ἐπιστήμη) [24]. Doch die Anfänge des Wissens und somit auch die ersten Prämissen, die Wissen aufbauen, sind nur dadurch möglich, daß «alle Lebewesen eine bestimmte Fähigkeit besitzen, eine natürliche Unterscheidungskraft, die man Wahr  nehmung nennt» (φαίνεται δὲ τοῦτό γε (sc. τις δύναμις) πᾶσιν ὑπάρχον τοῖς ζῷοις. ἔχει γὰρ δύναμιν σύμφυτον κριτικήν, ἣν καλοῦσιν αἴσθησιν [25]). Diese Fähigkeit selbst untersucht Aristoteles näher in seiner Schrift ‹Über die Seele›, in der er sie einerseits ebenfalls als κριτική bezeichnet [26], andererseits ihr aber nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Aufgabe des Denkens zuteilt (τὸ κριτικόν, ὃ διανοίας ἔργον ἐστὶ καὶ αἰσθήσεως) [27].

    Diese allgemeine und ursprüngliche Bedeutung von ‹K.› und jene mehr inhaltliche, nach der unter ‹K.› das ethisch-praktische Urteilsvermögen verstanden wird, verbinden sich schließlich zu einer Bedeutung von ‹K.›, die auf die spätere Entwicklung des Begriffs bei den Stoikern und vor allem im 17. und 18. Jh. vorausweist. ‹K.› meint dann das Urteil des Gebildeten im Gegensatz zu der begrenzten Beurteilung eines Sachverhalts durch den Sachverständigen. So beginnt das erste Buch der Schrift ‹De partibus animalium›, das ursprünglich als Schrift über die Methode in der Wissenschaft gegen das szientifische Ideal der Akademie gerichtet ist [28], ganz grundsätzlich mit der Unterscheidung zweier Wissenshaltungen (ἕξεις), der der wissenschaftlichen Spezialisierung, die in das Wissen eines konkretes Gebietes eindringt (ἐπιστήμη τοῦ πράγματος), und der einer allgemeinen Bildung, die instand setzt, eine umfassende K. auszuüben: «Dieser  [nämlich der allseitig Gebildete] ist nach unserem Urteil sozusagen eine Art von Kritiker über alle Fragen» (τοῦτον [τὸν ὅλως πεπαιδευμένον] μὲν περὶ πάντων ὡς εἰπεῖν κριτικόν τινα νομίζομεν εἶναι) [29]. Hiermit hat Aristoteles dem Begriff der K. eine bestimmte Zuspitzung gegeben, die in der Folgezeit einen engeren terminologischen Gehalt annehmen konnte.

 

    Anmerkungen.

 

[1] W. PAPE: Griech.-dtsch. Handwb. (61914, ND 1954) s.v. ‹KRÍNO, KRITIKÓS›.

 

[2] A. G. LIDDELL/R. SCOTT: A Greek-Engl. Lex. (Oxford 1948) s.v. ‹KRÍNO, KRÍSIS, KRITÉOS›.

 

[3] A. GUDEMAN: Art. ‹KRITIKÓS›, in: RE 11, 1912–15.

 

[4] Thes. ling. lat. (1900ff.) s.v.

 

[5] Vgl. R. KOSELLECK: K. und Krise (1959) 189ff.

 

[6] GRIMM s. v.

 

[7] ANAXAGORAS, VS 2, 43; vgl. VS 1, 478 (zu den Pythagoreern); 1, 235f. (zu Parmenides); PLATON, Resp. 582 d 1f. 523 b 2 u.a.

 

[8] JAMBLICH über die Hörer des Hippasos, in: VS 1, 109.

 

[9] z.B. PLATON, Theait. 170 d. 201 b/c.

 

[10] Theait. 150 b 2f., vgl. c 1ff.

 

[11] Polit. 258 e.

 

[12] a.a.O. 259 e.

 

[13] 260 a 9f.

 

[14] 260 b 3f. c 2.

 

[15] 292 b.

 

[16] 294 a 8.

 

[17] ARISTOTELES, Pol. 1275 b 18f.

 

[18] PAPE, a.a.O. [1], s.v. ‹DIKASTÉS› und ‹KRITÉS›.

 

[19] ARISTOTELES, Eth. Nic. 1143 a 8f.

 

[20] a.a.O. VI, 11. 12.

 

[21] 1143 a 9f.

 

[22] 1143 a23.

 

[23] 1143 a 29–31; vgl. 43 a 13–15; vgl. dazu C. v. BORMANN: Der prakt. Ursprung der K. (1974) 69ff.; Kap. 4.

 

[24] ARISTOTELES, Anal. post. II, 19; vgl. Met. 1, 1; vgl. H.-G. GADAMER: Wahrheit und Methode (1960) 333ff.

 

[25] ARISTOTELES, Anal. post. 99 b 34f.

 

[26] De an. 424 a 5f.

 

[27] a.a.O. 432 a 16.

 

[28] Vgl. 1. DÜRING: Aristoteles (1966) 113. 515ff.

 

[29] ARISTOTELES, De part. anim. 639 a 6ff.; vgl. Eth. Nic. 1094 b 27–95 a 2; vgl. dazu BORMANN, a.a.O. [23] 144.

 

 

J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, S. 1249-1251.

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