HWPh

Krise (2)

Sur l´eau 2008. 6. 2. 06:53

     II. Der Begriff ‹K.› (κρίσις) in medizinischem Sinne erscheint zum ersten Mal im ‹Corpus hippocraticum›. Es ist wohl möglich, daß der Begriff von den Medizinern aus der Dichtung und der Philosophie übernommen wurde; als Quelle kämen PARMENIDES und vor allem HERODOT in Frage, die ‹K.› im Sinne von Entscheidung, entscheidendem Moment benützen [1]. Eine entsprechende Bedeutung hat der Begriff auch im medizinischen Bereich. Die Auffassung, daß die Bedeutung von κρίσις in Zusammenhang mit ἔκκρισις (Ausscheidung) steht, widerspricht jeder medizinischen Tradition und wurde schon vor GALEN angegriffen [2]. Die medizinische Lehre von der K. – wahrscheinlich von HIPPOKRATES begründet – basiert auf der Feststellung, daß schwer fieberhafte Krankheiten unter auffallenden Symptomen plötzlich in Genesung oder in Verschlechterung übergehen und daß diese Wendungen im Krankheitsgange bestimmte Tage bevorzugen. Der entscheidende Wendepunkt im Verlauf der Krankheit heißt K. (κρίσις, κρίνεσθαι [3]); die für die Wendung der Krankheit bevorzugten Tage sind die entscheidenden Tage (κρίσιμος); an solchen Tagen entscheiden sich (κρίνονται) die Fieber [4]. In der posthippokratischen Medizin wird der Begriff K. in diesem Sinne fixiert, die Lehre von den K. und kritischen Tagen wird als fester Bestandteil der Medizin betrachtet. Für die Fixierung der Überlieferung sind die Äußerungen von CELSUS besonders wertvoll; obwohl er selbst der Lehre skeptisch gegenüber steht, bezeichnet er sie als «Lehre der Alten» und äußert als erster die Vermutung, die Berechnungen der kritischen Tage stünden unter dem Einfluß pythagoreischer Zahlenmystik [5].

    Maßgebend für die endgültige Fixierung des Begriffes und für die Überlieferung der ganzen Lehre von den K. und den kritischen Tagen ist GALEN. Er übernimmt grundsätzlich die Lehre und die Bestimmung des Begriffes von Hippokrates, betont aber, daß es ihm darum geht, die Lehre von der K. als Grundlage für die Prognose auszuarbeiten [6]. Wichtig für die Betrachtung der K. ist vor allem die richtige Fixierung des Krankheitsbeginns [7]. Die kritischen Tage können nur richtig bestimmt werden, wenn der Krankheitsverlauf an sich ganz ungestört geblieben ist [8]. Die richtige Feststellung der kritischen Tage dient auch als Basis für die Einteilung der Krankheiten in akute und chronische [9]. Galen gibt außerdem zum ersten Mal eine umfassende Darlegung über die Ursachen einer solchen Periodizität im Krankheitsverlaufe. Er lehnt jede mystische Zahlentheorie als Grundlage für die Erklärung der kritischen Tage als unwissenschaftlich ab [10], akzeptiert aber wohl die ägyptische Lehre über den Einfluß des Mondes und der anderen Himmelskörper auf den Verlauf der Gesundheit und der Krankheit [11]. Die Erklärung der Periodizität der kritischen Tage aus dem Mondlauf in Verbindung mit Zahlenmystik findet sich ausdrücklich zum ersten Mal bei PTOLEMAIOS [12]; sein Einfluß war in dieser Hinsicht für die Entwicklung der iatromathematischen Richtung maßgebend.

    Nach Galen ist die Lehre von den K. und kritischen Tagen nicht mehr wesentlich weiter entwickelt worden. Sowohl bei den Arabern als auch in der Scholastik stand sie in Ansehen [13]; der Begriff der K. blieb dabei unverändert. Das Interesse galt ausschließlich der Erklärung der Periodizität der kritischen Tage in der Nachfolge des Galen oder des Ptolemaios bzw. der Iatromathematiker.

    Das Interesse an solchen Diskussionen erreicht seinen Höhepunkt in der Medizin des 16. Jh. An dem Begriff der K. hatte sich jedoch weiter nichts geändert. Ein Zweifel an der Geltung der Lehre wird kaum geäußert. Die Diskussion drehte sich wiederum um die Ursache dieser auffallenden Gesetzmäßigkeit im Krankheitsverlauf [14].

    Nach dem 17. Jh. flaut das Interesse der Medizin für die alte Lehre der kritischen Tage allmählich ab. Die Medizin schlägt neue Wege für die Erklärung und Bewältigung schwer fieberhafter Krankheiten ein. Im 19. Jh. findet die Lehre von der K. bis auf einige exzentrische Ausnahmen [15] kaum mehr Beachtung. Seitdem der Arzt die typischen, durch lange Serien thermometrischer Bestimmungen gewonnenen graphischen Darstellungen des Temperaturverlaufes vor Augen haben konnte, verloren die zweifellos vorhandenen Zeitperioden im Krankheitsverlauf ihren geheimnisvollen Charakter und ihre Bedeutung.

 

    Anmerkungen.

 

[1] PARMENIDES, VS B 18, 15; HERODOT, Hist. III, 34; VI, 131; V, 5; VII, 26.

 

[2] GALEN, De diebus decretoriis II, 4 = Opera, hg. KÜHN 9, 856.

 

[3] HIPPOKRATES, Affect. 8 = Opera, hg. LITTRÉ 6, 216.

 

[4] Epidem. A. XX, 6 = a.a.O. 2, 660; Progn. XX = 2, 168; De diebus criticis = 9, 303.

 

[5] CELSUS, De re medica III, 4.

 

[6] GALEN, De crisibus. I, 1 = a.a.O. [2] 9, 550.

 

[7] De diebus decretoriis I, 6 = 9, 795.

 

[8] a.a.O. II, 2 = 842.

 

[9] II, 11 = 883.

 

[10] III, 11 = 934.

 

[11] III, 6 = 911.

 

[12] PTOLEMAIOS, Centioloquium, Satz 60.

 

[13] z.B. ABRAHAM BEN IBN ESRA (AVENARES), Liber de diebus criticis (12. Jh.); PIETRO d'ALBANO, Conciliator differentiarum (13. Jh.); JEAN CANIVET, Amicus medicorum (15. Jh.); G. PICO della MIRANDOLA, Disputationes adversus astrologos III, 16 (15. Jh.).

 

[14] z.B. G. FRACASTORO: De causis criticorum dierum per ea quae in nobis sunt (Venedig 1538); A. THRURINUS: Hippocratis et Galeni defensio avdersus Hieronymum Fracastorium (Rom 1542).

 

[15] L. TRAUBE: Über K. und krit. Tage, in: Göschens Dtsch. Klinik (1851).

 

    Literaturhinweise. K. SUDHOFF: Zur Gesch. der Lehre von den krit. Tagen im Krankheitsverlaufe. Sudhoffs Arch. Gesch. Med. 21 (1929) 1–22. – E. WITHINGTON: The meaning of KRÍSIS as a medical term. Class. Rev 20 (1934) 64f. – N. van BROCK: Recherches sur le vocabulaire méd. du grec ancien (Paris 1961). – W. H. S. JONES (Hg.): Hippocrates 1 (ND London 1962).

 

NELLY TSOUYOPOULOS

 

 

J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, S. 1241-1242.

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