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Kulturphilosophie (4)

Sur l´eau 2008. 6. 2. 05:34
β) Begründung der Kultur. – «Der Mensch lebt in einem symbolischen und nicht mehr in einem bloß natürlichen Universum. Statt mit den Dingen selbst umzugehen, unterhält sich der Mensch in gewissem Sinne dauernd mit sich selbst. Er lebt so sehr in sprachlichen Formen, in Kunstwerken, in mythischen Symbolen oder religiösen Riten, daß er nichts erfahren oder erblicken kann, außer durch Zwischenschaltung dieser künstlichen Medien» (E. CASSIRER [1]). Die K. ist das «symbolische Universum». Dieses ist das engmaschige Netz, in das der Mensch sein Leben lang verstrickt bleibt. Einen völlig kulturlosen Ur- oder «Natur» menschen gibt es nicht. «Der Unterschied von K.- und Naturmenschen ist mißverständlich. Keine menschliche Bevölkerung lebt in der Wildnis von der Wildnis, jede hat Jagdtechniken, Waffen, Feuer, Geräte» [2]. Es geht um die Tatsache der festen Korrelation zwischen Mensch und K. und um die Frage nach ihrem Grund. Begründungen sind in drei Richtungen versucht worden: in einer wertphilosophischen, einer lebens- und bewußtseinsphilosophischen und in einer ontologischen. Diese Aufzählung benennt die zeitliche Abfolge, in der jeder spätere Lösungsversuch den früheren korrigiert.

    W. WINDELBANDS und H. RICKERTS südwestdeutsche Schule, die sich ohnehin mehr um die formale K.ph. verdient gemacht hat, löst die Grundfrage wertphilosophisch. K., so lautet Rickerts Definition, ist die «Gesamtheit der realen Objekte, an denen allgemein anerkannte Werte oder durch sie konstituierte Sinngebilde haften und die mit Rücksicht auf diese Werte gepflegt werden» [3]. Wertbehaftete reale Objekte und Sinngebilde heißen K.-Güter.

    Abgesehen davon, daß jeder K. die Selbstwerteinschätzung einer Gruppe zugrunde liegt, ist die wertphilosophische Auskunft in dreifacher Hinsicht unbefriedigend. Erstens: Von Werten und ihrem Geltungsanspruch ist immer erst nach ihrer kulturellen Verwirklichung zu wissen. Erst nach der geschichtlichen Erfahrung konkreter K.-Güter und Sinngebilde werden deren Gehalte in ein zeitloses Reich des Soll- Seins projiziert mit der Versicherung, sie hätten längst vor ihrer geschichtlichen Bewußtwerdung immer schon gegolten und ihr Geltungsanspruch sei der Grund ihrer kulturellen Verwirklichung. Zweitens: K.-Güter oder Sinngebilde schafft der Einzelne, der Fachmann, der Vertreter eines meist schon gesellschaftlich anerkannten Standes nicht um der Werte willen. Drittens: Die Menschheit existiert als ein riesiges Nach-, Neben-, Mit- und Gegeneinander von Völkern [4]. K. gibt es nur im Plural. Die wertphilosophische Auskunft begründet nicht die Tatsache, «daß es rein empirisch eine Unzahl von typischen Formen gibt, wie die Menschen ihr Dasein gestaltet und eingerichtet haben» [5].

    Die lebensphilosophische K.-Begründung (FR. NIETZSCHE, W. DILTHEY, H. BERGSON) hat der wertphilosophischen voraus, daß sie die geschichtliche Buntheit der Kulturen angemessener als ausdruckshafte Selbstdemonstration eines Volkes, einer Gemeinschaft, eines Standes usw. rechtfertigen und logisch eher begreifen kann. Ist doch Ausdruck im Sinne von Anmutungsvalenzen ein Urphänomen des Lebens. Der wertphilosophischen Begründung haftet die subjektiv-idealistische Spannung zwischen Sollen und Sein an. Die lebensphilosophische Begründung hat infolge ihrer objektiv-idealistischen Einstellung ihre Chance in einer verstehend vorgehenden, physiognomische Fakten berücksichtigenden K.-Würdigung, die besonders O. SPENGLER zu nutzen verstand. Diese objektiv-idealistische Einstellung beflügelt nach E. ROTHACKER die Neigung, K.-Erscheinun gen «in erster Linie durch Reduktion auf Lebensbegriffe zum Verständnis zu bringen, das Augenmerk weniger auf sachliche Leistungen als auf lebendiges Sein, auf Lebenserscheinungen und Lebensgestaltungen zu richten, die ‹sich zum Ausdruck bringen›» [6].

    Der Ehrgeiz lebensphilosophischer K.-Begründung war, die «tendenziöse» Einheit des jeweils eigenen unverwechselbaren individuellen Lebensstils in all ihren K.-Erscheinungen anschaulich zu machen unter dem ergiebigen Vergleichsgesichtspunkt des raum- zeitlichen Selbstverständnisses einer Gemeinschaft. So konnte Rothacker K. begreifen als typische Ausdrucksform eines Gesamtverhaltens und somit als Ausdruck eines historisch gewordenen und wandelbaren Lebensstils einer Gemeinschaft [7].

    Bei T. S. ELIOT findet sich eine parallele Formulierung: K. sei die «Gesamtform, in der ein Volk lebt [the wohle way of life of a people] von der Geburt bis zum Grabe, vom Morgen bis in die Nacht und selbst im Schlaf» [8].

    Vorgebildet war dieser Gedanke in NIETZSCHES Unterscheidung von Stilisierung und Stil. Aus dem im 19., dem «historischen» Jh., allseits zu vernehmenden Ruf nach Stil [9] hörte Nietzsche den Wunsch nach K. heraus. Aber: K. kann man nicht wollen! Wer glaubt, K. sei ein Willensentschluß, gewinnt ein System von Nicht-IC. Auch wer Stil «will», gewinnt keinen, nur Stilisierungen. Stil ist wie K. keine Willenssache. Auf den Mangel an Stil und den Überfluß an Stilisierungen hatten schon FR. TH. VISCHER – «Wir malen alles und noch einiges Andere. Wir malen Götter und Madonnen, Heroen und Bauern ... Unsere Kunst ist ... ein Vagabund, ... dem es mit nichts Ernst ist» [10] – und G. SEMPER [11] hingewiesen. K. kann nicht gewollt werden, auch nicht, indem man historisch Gewesenes durch Kennenlernen lernt. K. ist kein Wissensgegenstand [12]; denn «K. ist vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes» [13].

    Mit Bezug auf «unterirdische» Zusammenhänge der Gestaltungen, z.B. der Mathematik, Ornamentik, Architektur, Ölbildnerei, Instrumentalmusik, der Staats-, Wirtschafts-, Kreditformen u. ä., in denen sich ein bestimmter «öffentlicher» Lebensstil «spiegelt» bzw. ausdrückt, ist die lebensphilosophische K.-Begründung sicher richtig. Das hermeneutische Ausdrucksverfahren zieht seine Berechtigung aus der lebensphilosophischen Begründung und Bestimmung der K. als Lebensstil. Seine Stärke liegt in der anschaulich sich versenkenden und zugleich erläuternden Hervorhebung von werkimmanenten Sinngehalten und deren Zusammenhängen. Es bewegt sich zirkelhaft vom Allgemeinen zum Besonderen und zurück. FR. SCHLEIERMACHER und W. DILTHEY cha rakterisieren es als Denkbewegung im Kreise. Aber eben dieser fruchtbare hermeneutische Zirkel, der von M. HEIDEGGER als Grundgesetz des Verstehens so expliziert wurde, daß auch der Verstehende sein mitgebrachtes Verständnis auf den Zirkel gehen läßt, wird ein circulus vitiosus, sobald mit ihm nicht mehr kulturgeschichtliche Dokumente verstanden, sondern die Bedingungen und Gründe für dieselben ausgemacht werden sollen, aus und mit denen ihre Faktizität vernünftig zu begreifen ist [14]. Sollte nämlich der sich ausdrückende Lebensstil die Grundbedingung für die faktische K. sein, würde diese Auskunft schon wieder K. voraussetzen. Denn der Begriff des Lebensstils impliziert bereits sein kulturelles Ausgeprägtwordensein. Von einem kulturfreien und -unabhängigen Lebensstil im Sinne eines Apriori ist schlechterdings nichts zu wissen. Das lebensphilosophisch verstehende Ausdrucksverfahren ist als ein erläuterndes, interpretatorisches Verfahren auf vorgegebenes kulturhistorisches Material, auf Überreste, Quellen und Denkmäler einer jeweils bestimmten K. angewiesen. Und nur in dieser Angewiesenheit bewährt es sich. Sobald es rationale Ziele des konstruktiven Begreifens erreichen soll, versagt es. K. muß auch heterologisch von einem nicht-kulturellen X her begriffen werden. Dies versucht die ontologische K.-Begründung.

     A. GEHLEN bestimmt als Grund der K. eine «noch nicht entgiftete» Natur. Ohne diese vorauszusetzende «Natur erster Hand» ist K. als selbsterschaffene Welt bzw. als Ausdruck eines öffentlichen Lebensstils nicht denkbar. Gehlen läßt das von ihm Natur genannte X allerlei «tun». Sie «weist» dem Menschen eine «Sonderstellung» an, hat mit ihm «ein neues Organisationsprinzip» zu erschaffen beliebt [15], überläßt ihm die Erfüllung seiner «Bestimmung», weiter zu leben [16], «verwehrt» ihm, als «Naturmensch» zu existieren, hat ihm das Antriebsleben «bewußt gemacht» und somit «der Störbarkeit ausgeliefert» [17], «bietet» ihm ein Überraschungsfeld [18] usw. A. J. TOYNBEE läßt die «K.» (= Gesellschaftskörper) ebenfalls auf etwas schon Daseiendem aufruhen, zwar nicht in direkter ontologischer Aussage; aber aus der zweigliedrigen Formel von «challenge» und «response» spricht der Grundlegungsgedanke deutlich genug. Danach ist Nicht-K. zwar nicht der einzige, aber auch ein Grund von K. K. werden provoziert. Bei GEHLEN heißt das provozierende X «Natur erster Hand». TOYNBEE läßt es unbenannt, aber seine Modellformel verrät, daß auch er mit etwas Seinsmäßigem, das selber nicht-kultureller Seinsart ist, K. zu begründen sucht.

    Auch für ROTHACKER gründet K. ontologisch in einem X, das er in Unterscheidung zur K.-Welt «Wirklichkeit» nennt. K. sind nicht ohne Grund. Sie sind nicht bloße Vorstellungen. Sie sind schöpferische Erdeutungen dessen, was wirklich ist [19].

    Die ontologische Begründung von K. in der letzten Phase der K.ph. will die Begründungsansätze im Umkreis der Wert- und Lebensphilosophie, einschließlich der Bewußtseinsphilosophie z.B. R. KRONERS [20], nicht annullieren, sondern «aufheben».

 

    Anmerkungen.

 

[1] E. CASSIRER: Was ist der Mensch? Versuch einer Philos. der menschl. Kultur (dtsch. 1960) 39.

 

[2] A. GEHLEN: Der Mensch (41950) 40.

 

[3] H. RICKERT: K.-Wiss. und Naturwiss. (1926) 28.

 

[4] W. HELLPACH: Einf. in die Völkerpsychol. (21944) 1.

 

[5] W. E. MÜHLMANN: Umrisse und Probleme einer K.-Anthropol. Homo 7 (1956) 154.

 

[6] E. ROTHACKER: Logik und Systematik der Geisteswiss. (1926) 124.

 

[7] Vgl. Geschichtsphilos. (1934) 37ff.; Überbau und Unterbau, Theorie und Praxis, in: Schmollers Jb. 56 (1932) 9; K. als Lebensstile. Z. dtsch. Bildung (1934) 177ff.; Probleme der K.-Anthropol. (1942) 147; Weltgesch., in: Der Mensch und die Künste. Festschr. H. Lützeler (1962) 174ff.; Philos. Anthropol. (1964) 87; Zur Geneal. des menschl. Bewußtseins (1966) 361.

 

[8] T. S. ELIOT: Beitr. zum Begriff der K., dtsch. G. HENSEL (1949) 37.

 

[9] Vgl. W. WEIDLÉ: Die Sterblichkeit der Musen (1958) 161ff.

 

[10] FR. TH. VISCHER: Zustand der jetzigen Malerei, in: Krit. Gänge, hg. R. VISCHER 5 (21922) 37.

 

[11] Vgl. WEIDLÉ, a.a.O. [9] 163.

 

[12] FR. NIETZSCHE: Unzeitgem. Betracht. I (1930) 7f.

 

[13] ebda.

 

[14] Vgl. ROTHACKER, a.a.O. [6] 124ff.

 

[15] Vgl. GEHLEN, a.a.O. [2] 17.

 

[16] 35.

 

[17] 55.

 

[18] Urmensch und Spätkultur (1956) 112.

 

[19] Vgl. ROTHACKER, Zur Geneal. ... a.a.O. [7] 211.

 

[20] R. KRONER: Die Selbstverwirklichung des Geistes. Proleg. zur K.ph. (1928).

 

    Literaturhinweis. Eine ausführliche Fassung dieses Art. erscheint im Arch. Begriffsgesch. 20 (1976) 42–99.

 

W. PERPEET

 

J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, S. 1321-1324.

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