HWPh

Kulturphilosophie (2)

Sur l´eau 2008. 6. 2. 05:27
  2. Systematisches. – Bei ausreichendem Abstand lassen sich in der K.ph. drei Richtungen unterschei den: die philosophische K.-Kritik, die formale und die materiale K.ph.

    a) Philosophische K.-Kritik. – Sie hat die dogmatische K.-Kritik und deren intellektuales Motiv zum Gegenstand. Dogmatische K.-Kritik will lehren, was K. in Wahrheit ist und daß die augenblickliche nicht die wahre ist. Sie will selbst kulturschöpferisch sein. Die «alte» Welt wird bewußt gemacht, um die «neue» als die wahre und aufgegebene klarer und deutlicher vorstellen zu können. Dieser kulturbejahende Grundzug dogmatischer K.-Kritik zeigt sich in Titelgebungen wie ‹Der Geist des Aquinaten und die K.-Aufgaben der Jetztzeit› [1], ‹Die Aufgaben unserer Zeit› (J. ORTEGA y GASSET 1923), ‹Verfall und Wiederaufbau der K.› (A. SCHWEITZER 1923); er zeigt sich auch in Notruftiteln wie ‹An Deutschlands Jugend› (W. RATHENAU 1918), ‹Deutscher Geist in Gefahr› (E. R. CURTIUS 1932). Im Lichte der Wahrheit der K. von morgen werden Mißstände des «heutigen» Tages als ein selbstverschuldetes Leiden bewußt gemacht.

    Die philosophische K.-Kritik will wissen, warum Unzufriedenheit mit und Unbehagen an der K. überhaupt möglich sind. Sie nimmt die dogmatische Kritik ernst, macht sie zum Problem. Auf Fragen wie: Warum sind die Zeiten des Glücks in der Geschichte leere Blätter? Warum gehört zur K. auch die Kritik an ihr? Warum ist K. etwas Unbefriedigendes, wenngleich der Mensch nicht ohne K. sein kann? hält die «klassische» philosophische K.-Kritik zwei gegensätzliche Auskünfte bereit: eine szientistische und eine lebensphilosophische.

    α) Der szientistische Einschlag zeigt sich in der philosophischen K.-Kritik E. CASSIRERS. Er unterscheidet ein «natürliches» und ein «wissenschaftliches» K.-Verständnis. – Das natürliche K.-Verständnis wird aufgefaßt als ein distanzlos getätigtes der Lebenspraxis. Aus ihr hat man ein «unmittelbares» Werkverständnis, welches ‹intuitiv› in und mit den Formen, Gebilden, Institutionen lebt. Wir verstehen, ohne die Sprachwissenschaft oder die Grammatik bemühen zu müssen, einander im Sprechen einer Sprache. «Das ‹natürliche› künstlerische Gefühl bedarf keiner Kunstgeschichte und keiner Stilistik» [2]. Ohne den Gehalt der symbolischen Formen erst theoretisch im Abstand bedenken zu müssen, «verstehen» wir als natürlich Lebende sie ebenso wie Um-zu- Dinge und Geräte, die in und mit der Handhabung schon verstanden sind. Werden überkommene Gebräuche und Sitten erfüllt, sind sie lebenspraktisch schon verstanden. «Wir leben in den Worten der Sprache, in den Gestalten der Poesie und der bildenden Kunst, in den Formen der Musik, in den Gebilden der religiösen Vorstellung und des religiösen Glau bens. Und nur hierin ‹wissen› wir voneinander» [3].

    Nur – und das ist das szientistische «Aber» – bringt sich das natürliche K.-Verständnis um die Möglichkeit, die Werkformen auch als Ausdrucksformen zu verstehen. Es fehlt der erforderliche Abstand, den Cassirer ausschließlich der wissenschaftlichen Einstellung einräumt und somit nur den K.-Wissenschaften als Möglichkeit zuordnet. Erst mit der Einnahme einer wissenschaftlichgelassenen Haltung – dies ist ein genuin szientistisches Argument – gewinnt der Mensch die ausreichende Distanz zu den überkommenen K.-Gütern, um deren Formen auch als prägnante Ausdrucks- und bestimmte Pathosformen jener «konstanten Menschennatur» zu verstehen, die Cassirer übereinstimmend mit der von ihm so hoch geschätzten europäischen Aufklärungsphilosophie der Menschheitsgeschichte unterlegt. Mögen Werke und Formen auch unendlich differenziert sein, so entbehren sie doch nicht «der einheitlichen Struktur. Denn es ist letzten Endes ‹derselbe› Mensch, der uns in tausend Offenbarungen ... immer wieder entgegentritt» [4]. Ein Werk mag noch so fest und in seinem Mittelpunkte ruhen, «es ist und bleibt doch nur ein Durchgangspunkt. Es ist kein ‹Absolutes›, an welches das Ich anstößt, sondern es ist die Brücke, die von einem Ich-Pol zum anderen herüberführt. Hierin liegt seine eigentliche und wichtigste Funktion» [5].

    Das wissenschaftliche K.-Verständnis bestimmt Cassirer nach dem Modell eines Gesprächs, das hochgebildete Partner miteinander führen: Jeder weiß, daß er als Einzelner immer Unrecht hat und daß die Wahrheit erst zu zweien beginnt. Was diese philosophische K.-Kritik und jede andere dieser Art zu einer szientistischen macht, ist der Gedanke, daß Unzufriedenheit und dogmatisch betriebene K.-Kritik unmöglich wären, wenn es dem Menschen gegeben wäre, sein Leben in der kulturwissenschaftlichen Haltung verbringen zu können. Denn sich «stoßen» und «reiben» an den Werken und Formen kann der Mensch nur aus der Einstellung des «natürlichen» K.-Verständnisses, weil der vor- und außerwissenschaftlichen Lebenspraxis der Mangel an distanzierter Gelassenheit eigentümlich sein soll.

    β) In seiner lebensphilosophischen K.-Kritik nennt G. SIMMEL K. eine große anhaltende Tragödie. Schuld daran ist das Leben selbst. Um aus seiner animalischen und unmittelbaren Anonymität herauszutreten und wissen zu können, was es an sich selbst ist, muß Leben sich kenntlich machen für sich selbst und sich objektiv werden in und mit Formen, die es selbst prägt und erfindet. Erst als solches verdient es, «geistiges» oder auch «schöpferisches» [6] Leben genannt zu werden. Die Leben zu sich selbst vermittelnden Formen sind erstens Ordnungsformen des Zusammen lebens (Wirtschafts-, Gesellschafts-, Staats-, Rechts-, Erziehungs-, Bildungs-, Verkehrsformen u.a.m.) und zweitens Formen, mit denen es sich die Wirklichkeit erdeutet (Sprache, Mythos, Kunst, Religion, Wissenschaft). In solche Arten von Ordnungs- und Deutungsformen kleidet sich geistig-schöpferisches Leben und tritt als solches erst in Erscheinung [7]. Indem Leben sich auf diese Weise objektiv wird, erfährt es Neues über sich, weiß es, was es von sich zu halten hat.

    Aufgrunddieser Verbindlichkeit vermittelnden und den Geist einer Sprach-, Religions-, Wirtschaftsgemeinschaft oder den Geist einer Kunst oder einer Wissenschaft stiftenden K.-Gebilde (-formen, -zweige, -funktionen) spricht Simmel denselben einen K.- Wert zu. Ein K.-Wert ist jedem geschichtlich sich bewährenden und eine konkrete Lebenswelt mitkonstituierenden K.-Gebilde eigen. Leben bedarf zu seiner gesteigerten Lebendigkeit der K. Aber diese Steigerungstendenz zur objektiven Geistigkeit verhindert bzw. lähmt auch wieder den Schwung zur subjektiv individuellen Lebendigkeitserfahrung in der entgegengesetzten Richtung. Der Steigerungstendenz zum subjektivierenden Ich-Pol sind die selbst geschaffenen und dann in eigentümlicher Selbständigkeit unabhängig vom Leben verharrenden Gebilde hinderlich und abträglich aufgrundihres Sachwertes, ist doch jedem K.-Gebilde außer den ihm inhärierenden K.-Werten auch ein davon noch zu unterscheidender Sachwert immanent.

    Es ist Simmels Verdienst, daß er an jedem K.-Gebilde einen lebensweltlich bedeutsamen K.-Wert und einen davon unabhängigen Sachwert unterschied und daß er die Wirkung eines K.-Gebildes nach beiden Seiten hin verfolgte. Sind erst einmal Sprach-, Rechts-, Kunst-, Sittenformen u.a. geschaffen, so haben wir es gar nicht mehr in der Hand, zu welchen einzelnen Gebilden sie sich entfalten; diese erzeugend oder rezipierend, gehen wir vielmehr am Leitfaden einer ideellen Notwendigkeit entlang, die völlig sachlich und um die Forderungen unserer Individualität, so zentral sie seien, nicht weniger unbekümmert ist, als die physischen Mächte und ihre Gesetze es sind [8].

    Wie die Sprache hat auch die Kunst ihre immanente Logik. Auf ihrem Gebiete gibt es Gebilde von einer letzt erreichbaren Vollendung, die zur Reifung der «Persönlichkeit» nichts beitragen. Auf dem ethischen Gebiete nicht minder: Haben z.B. ethische Imperative ihre geschichtliche Wirkung getan, können manche von ihnen «Ideal von so starrer Vollkommenheit» werden, «daß sich aus ihm sozusagen keine Energien, die wir in unsere Entwicklung aufnehmen könnten, aktualisieren lassen» [9]. Wenn Leben als subjektiver für sich selbst verantwortlicher Ich-Geist kaum mehr einen Gegenhalt am K.-Wert von K.-Gebilden hat und findet, sondern vorwiegend an den Sachwerten in ihnen interessiert ist, ist der Anlaß zum Unbehagen an der gegenwärtigen K. auch schon gegeben und ebenso der zur dogmatischen K.-Kritik. Unter der einseitigen Betonung des Sachwertes nehmen K.-Gebilde jenen Fetischcharakter an, gegen den jede dogmatische K.-Kritik sich richtet [10].

 

    Anmerkungen.

 

[1] B. JANSEN: Der Geist ..., in: Jb. des Verbandes der Vereine kath. Akademiker zur Pflege der kath. Weltanschauung (1924).

 

[2] E. CASSIRER: Zur Logik der K.-Wiss. (31971) 76.

 

[3] a.a.O. 75f.

 

[4] 76.

 

[5] 110.

 

[6] G. SIMMEL: Der Konflikt der modernen K. (31926) 5.

 

[7] Der Begriff und die Tragödie der K., in: Philos. K. (21929) 251.

 

[8] a.a.O. 240f.

 

[9] 238.

 

[10] 249f.



W. PERPEET

 

 

J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, S. 1314-1318.

'HWPh' 카테고리의 다른 글

Kulturphilosophie (4)  (0) 2008.06.02
Kulturphilosophie (3)  (0) 2008.06.02
Kulturphilosophie (1)  (0) 2008.06.02
Kultur  (0) 2008.06.02
Urgeschichte  (0) 2008.06.01