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Urgeschichte

Sur l´eau 2008. 6. 1. 09:07

Urgeschichte (griech. πρτη γνεσις τν νθρπων; lat. initium generis humani, historia a mundo condito; engl. primaeval history, prehistory; frz. préhistoire). Der Begriff ‹U.› kann mit Bezeichnungen wie ‹Ursprung› ð (s.d.), ‹älteste Geschichte der Menschheit›, ‹Vorgeschichte› u.a. abwechseln. Während ‹Vorgeschichte› ð (s.d.) als geschichtsphilosophischer Begriff das geschichtlich Folgende als das Eigentliche betont, geht es bei der U. in Theologie und Geschichtsphilosophie, aber auch in der Rechts- und Sozialphilosophie um eine maßgebliche göttliche (oder ideale) Herkunftsgeschichte der Menschheit wie sie als ‘Urstandʼ ð (s.d.) vor dem Sündenfall ð (s.d.) oder auch mit dem Begriff ‹vorsintflutlich› ð (s.d.) thematisiert wird. Der früheste philosophisch relevante Gebrauch des deutschen Begriffs läßt sich bislang erst bei J. G. HERDER nachweisen [1].

    Das Problem der U. wird aus der biblischen Tradition durch den ‹Pentateuch› vermittelt (vgl. ββλος γενσεως νθρπων in Gen. 5, 1 ‹Septuaginta›), der bis ins 19. Jh. als eine Schrift des Mose gelten konnte; das Problem ist in Kommentierungen von Gen. 1–11 kontinuierlich präsent [2], bes. wegen des Textes Gen. 2, 4–3, 24, der im 18. Jh. zumeist als eine ‘Urkundeʼ betrachtet wurde. Alternativ dazu wird das Motiv des Anfangs der Geschichte durch die klassi sche antike Tradition vermittelt, u.a. durch HESIODS Dichtung vom Goldenen und von den folgenden degenerativen Zeitaltern [3], durch DIODORS Bericht über das «anarchische und tierische Leben» (τακτος κα θηριδης βος) der ersten Menschen [4] sowie durch die Lehrdichtung des LUKREZ [5]. Unter den Kirchenvätern ist AUGUSTINUS der einflußreichste Autor, nach dem Kain in der U. die «civitas hominum» oder «civitas terrena» begründet («condidit»), während über Abel bzw. Seth die Linie der «civitas sanctorum» oder «civitas Dei» läuft (vgl. Gen. 4, 1–26) [6]. Die ‹Genesis›-Auslegung M. LUTHERS folgt noch auf klassische Weise Röm. 5 und entwickelt als U. ein Gegenbild zur christologisch begründeten Hoffnung des Menschen [7].

    Im 17. Jh. wird die dogmatische Rezeption der ‹Genesis› in einem mehr historischen Sinn umorientiert, so daß z.B. H. GROTIUS zur Erläuterung der mosaischen «historia a mundo condito» die biblische und die klassische antike Tradition zusammenführen [8], I. de la PEYRÈRE eine «Praeadamitarum hypothesis» entwerfen [9] und J. USSHER wirkungsmächtig das Jahr 4004 v. Chr. als Jahr der Schöpfung errechnen kann [10]. TH. HOBBES stellt im ‹Leviathan› für den Anfang der Geschichte der Menschheit die «natural condition of mankind» als einen Kriegszustand vor, dessen hypothetischen Cha rakter er notiert: «I believe it was never generally so, over all the world»; der besondere Verlauf der israelitischen Geschichte «from the very creation» bleibt weiterhin ein eigener Aspekt [11]. J. LOCKE konstatiert: «the Power which is now in the World, is not that which was Adam's»; am Anfang der Geschichte stehe ein «state of nature» [12]. Zwar wird die älteste Geschichte der Menschheit 1736 in der ‹Universal History› als «the history of the old world» noch einmal umfassend auf biblischer Grundlage dargestellt [13], das philosophische Interesse an solchen Werken beschneidet jedoch D. HUME mit dem Urteil: «The first page of Thucydides is, in my opinion, the commencement of real history» [14]. J.-J. ROUSSEAU betont die Notwendigkeit «de remonter jusqu'à l'état de Nature» nur, um gleichzeitig die biblische Überlieferung abzuweisen: «Commençons donc par écarter tous les faits» [15].

    Vor diesem Hintergrundist J. G. HERDERS polemische Verwendung des Begriffs ‹U.› in den ‹Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit› zu lesen: «Abstractionen ... geben so wenig als das Gemälde der Dichter eine wahre U. der Menschheit». Fast synonym steht der Begriff ‹Geschichte›: «Dem Philosophen der Geschichte kann keine Abstraction, sondern Geschichte allein zum Grunde liegen ...». Deshalb sei die «Philosophie der Geschichte ..., die  die Kette der Tradition verfolgt, ... eigentlich die wahre Menschengeschichte ...» [16]. Vorbereitet durch seine ‹Älteste Urkunde des Menschengeschlechts› von 1774/76 kulminiert seine apologetische Demonstration der Unverzichtbarkeit der biblischen ‹Genesis› für die Geschichtsphilosophie in den ‹Ideen I–II› von 1784/85, bes. in Buch 9 und 10, wo Herder sein theologisch geprägtes traditionsgeschichtliches Bild der Menschheitsgeschichte aus einem natürlichen und zugleich göttlich gestalteten und geleiteten Ursprung der philosophischen Konzeption eines Naturzustands ð (s.d.) entgegensetzt. Als Rezensent Herders bemerkt I. KANT, daß er selbst die in alten biblischen ‘Urkundenʼ «erzählten und dadurch zugleich bewährten Facta philosophisch zu nutzen gar nicht» verstehe [17]; Kant verfolgt seinerseits die «Geschichte der Menschengattung im Großen» «von der unteren Stufe der Thierheit an» [18]. Die ‘Urkundenʼ der ‹Genesis› werden gegen Ende des 18. Jh. durch J. G. EICHHORN und J. PH. GABLER auch von seiten der Bibelwissenschaft ihrer Erschließungskraft für die Menschheitsgeschichte entkleidet und in mehreren Stadien als historische, poetische oder philosophische Mythen beschrieben [19]. Gen. 3 ist für F. W. J. SCHELLING die literarische Gestalt eines «Philosophems» [20]. Die Rezeption der ‹Genesis› teilt sich danach für das 19. Jh. in einen  Zweig, der von der biblischen ‹U.› nur zur Bezeichnung eines literarischen Werkes spricht und dessen Herkunft bibelwissenschaftlich erforscht, und einen anderen, der am Datum 4004 v. Chr. und am historischen Quellenwert der Überlieferung meint festhalten zu können.

    In eigenwilligem Anschluß an Herders Modell der ‹Urkunden› findet F. SCHLEGEL für seine Geschichtsphilosophie im Nebeneinander von Sethiten und Kainiten (Gen. 4) den «eigentlichen Schlüssel» für die U. «Dieses Anfangsthema von dem großen Gegensatze in der U., als der ersten welthistorischen Tatsache, ist nun auch für die ganze nachfolgende Entwicklung der historischen Völker und Zeiten von bedeutendem Interesse ...» [21]. G. W. F. HEGEL polemisiert gegen diese «Prätension ... eines geschichtlichen Factums, und zugleich einer höheren Beglaubigung desselben», denn: «Der philosophischen Betrachtung ist es nur angemessen und würdig, die Geschichte da aufzunehmen, wo die Vernünftigkeit in weltliche Existenz zu treten beginnt» [22]. Es gibt danach keine U. mehr, vielmehr ist «das Vorgeschichtliche» aus der Weltgeschichte auszuschließen [23]. Gegen Hegel läßt F. ENGELS die «vorgeschichtliche Grundlage unsrer geschriebnen Geschichte» eine neue Bedeutung gewinnen [24]. Mit L. H. MORGANS ‹Ancient Society› von 1877 habe «eine  neue Epoche der Behandlung der U.» begonnen [25], jetzt könne man die «urwüchsige kommunistische Gesellschaft» als die «Vorgeschichte der Gesellschaft» darstellen [26].

    In Philosophie und Theologie wird der Begriff ‹U.› zu neuer Verwendung frei, wo es nicht mehr um den Anfang der Weltgeschichte geht. So notiert F. OVERBECK, U. habe es «mit einer Vergangenheit besonderen Sinnes» zu tun. «Der Schleier, der ja über jeder Ueberlieferung liegt, ist bei der U. bis zur Undurchdringlichkeit gesteigert.» «U. hat zum Grundmerkmal Entstehungsgeschichte ... und nicht etwa ... uralt zu sein» [27]. Im Anschluß an Overbeck nimmt K. BARTH 1927 den Begriff ‹U.› auf «als theologischen Begriff zur Bezeichnung des eigentümlichen Verhältnisses von Offenbarung und Geschichte. ... Offenbarung ist U.». Zugleich soll gelten: «Die Geschichte im Allgemeinen ist nicht Offenbarung. Sie ist es als U.» [28]. M. HORKHEIMER und TH. W. ADORNO zielen mit einer Interpretation der ‹Odyssee› auf die Aufdeckung der «U. der Subjektivität» [29]. Daneben bleibt der Begriff ‹U.› auch Bezeichnung einer mythischen Epoche, wenn es heißt: «Die Erinnerung des fernsten und ältesten Glücks ... weist auf die U. zurück. Gleichgültig, welche Fülle der Qual den Menschen in ihr widerfuhr, sie vermögen doch kein Glück zu denken, das nicht vom Bilde jener U. zehrte» [30]. J. HABERMAS spricht in einem Essay über W. BENJAMIN von dessen Plan einer «U. der Moderne» und diskutiert das Motiv eines «Umschlags der Moderne in U.» bei Benjamin [31].

 

    Anmerkungen.

 

[1] GRIMM 11/III (1936) 2421.

 

[2] z.B. BASILIUS: Hom. IX in Hexaem. MPG 29, 1–208; Orat. II de hominis structura. MPG 30, 10–62; GREGOR NYSS.: De hominis opif. MPG 44, 123–256; AUGUSTINUS: De Gen. ad litt. MPL 34, 245–486; De civ. Dei XI–XVIII. MPL 41, 315–620; M. LUTHER: In primum libr. Mose enarr. Weim. Ausg. [WA] 42; J. CALVIN: Comm. in Gen. Corp. Ref. 61; Critici sacri 1 (London 1660): Samml. versch. Autoren; A. CALOV: Biblia Vet. Test. illustr. I (1672); J. LE CLERC: Genesis (Amsterdam 1693); A. CALMET: Comm. litteral ... 1 (Paris 1724).

 

[3] HESIOD: Erga 109–201; vgl. OVID: Metam. I, 76–150.

 

[4] DIODORUS SIC.: Bibliotheca hist. I, 6–8; parallel als Zit. bei EUSEBIUS CAES.: Praepar. evang. I, 7. MPG 21, 51–56.

 

[5] LUKREZ: De rer. nat. V, 925–1457; vgl. auch: VITRUV: De archit. II, 1.

 

[6] AUGUSTINUS: De civ. Dei, bes. XV, 1; zur Apologie der bibl. Chronologie: XII, 11; XVIII, 40. MPL 41, 437f. 359f. 599f.

 

[7] LUTHER, a.O. [2] sowie: Pr. über das erste Buch Mose (1523/24, 1527). WA 14, 92–488; 24, 1–743; vgl. zu Ps. 102,

 

5: WA 1, 197.

 

[8] H. GROTIUS: Annotata ad Vet. Test. Op. omn. theol. 1 (Amsterdam 1679, ND 1972) 1a; De veritate relig. Christ. I, 16, a.O. 3, 9–28.

 

[9] I. de la PEYRÈRE: Praeadamitae sive exercitatio sup. Rom. 5, 12–14 (Amsterdam 1655).

 

[10] J. USSHER: Annales Vet. Test. (London 1650/54).

 

[11] TH. HOBBES: Lev., c. 13. 17. 35 (1651), hg. R. TUCK (Cambridge 1996) 88f. 280.

 

[12] J. LOCKE: Two treat. of gov. I, 9; II, 2. 8 (1690), hg. P. LASLETT (Cambridge 1960) 234. 287ff. 354.

 

[13] Univ. hist. 1 (London 1736) 107.

 

[14] D. HUME: Of the populousness of anc. nations (1752). Works, hg. T. H. GREEN/T. H. GROSE 4 (London 1882) 414; danach: I. KANT: Idee zu einer allg. Gesch. in weltbürgerl. Absicht (1784). Akad.-A. 8, 15–31, hier: 29; vgl. auch: D. HUME: Of the rise and progress of the arts and sci. (1742); The nat. hist. of relig. (1757), a.O. 3, 178; 4, 310.

 

[15] J.-J. ROUSSEAU: Disc. sur l'orig. ... de l'inégalité parmi les hommes, Introd. (1755). Oeuvr. compl., hg. B. GAGNEBIN/M. RAYMOND 3 (Paris 1964) 132.

 

[16] J. G. HERDER: Ideen 10, 6; 8, Einl.; 9, 1. Sämmtl. Werke, hg. B. SUPHAN 13 (1887) 431. 290. 352.

 

[17] I. KANT: Rez. von J. G. Herders Ideen zur Philos. der Gesch. der Menschheit 2 (1784). Akad.-A. 8, 58–66, hier: 63; vgl. 109.

 

[18] Idee ..., a.O. [14] 27. 25; vgl. 115.

 

[19] J. G. EICHHORN: U., hg. J. PH. GABLER 1 (1790); 2/1–2 (1792/93); Nachtrag (1795).

 

[20] F. W. J. SCHELLING: Antiquissimi de prima malorum humanorum orig. philosophematis Gen. III explic. tentamen ... (1792); Ueber Mythen, hist. Sagen und Philosopheme der ältesten Welt (1793).

 

[21] F. SCHLEGEL: Philos. der Gesch. (1828), hg. J. J. ANSTETT. Krit. Ausg., hg. E. BEHLER 9 (1971) 44; zu Herder: a.O. 93; vgl. auch 32.

 

[22] G. W. F. HEGEL: Vorles. über die Philos. der Gesch. (1837/40). Jub.ausg., hg. H. GLOCKNER 11 (1928) 93.–95.

 

[23] a.O. 100; vgl. 158.

 

[24] F. ENGELS: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, Vorw. zur 1. Aufl. (1884). MEW 21 (1962) 28. 165 (zu Hegel).

 

[25] Vorw. zur 4. Aufl. (1891). MEW 22 (1963) 220; vgl. Br. an K. Kautsky (1884). MEW 36 (1967) 109f.

 

[26] Anm. in der engl. Ausg. von 1888 bzw. der dtsch. Ausg. 1890, in: K. MARX/F. ENGELS: Manifest der Kommunist. Partei (1848, 1890). MEW 4 (1974) 462; vgl. Art. ð ‹Urkommunismus›.

 

[27] F. OVERBECK: Christentum und Kultur, hg. C. A. BERNOULLI (1919, ND 1973) 20f. 24.

 

[28] K. BARTH: Die Christl. Dogmatik im Entwurf (1927), hg. G. SAUTER (1982) 310. 318.

 

[29] M. HORKHEIMER/TH. W. ADORNO: Dial. der Aufklärung, Exkurs 1 (1947), in: TH. W. ADORNO: Ges. Schr. 3 (31996) 73.

 

[30] a.O. 82f.; vgl. auch: a.O. 64: ‹Prähistorie› und ‹Vorwelt›.

 

[31] J. HABERMAS: W. Benjamin. Bewußtmachende oder rettende Kritik (1972), in: Philos.-polit. Profile, erw. Ausg. (1981) 336–376, hier: 348f.

 

    Literaturhinweise. A. O. LOVEJOY/G. BOAS: Primitivism and related ideas in antiquity (Baltimore 1935). – G. BOAS: Essays on primitivism ... in the MA (Baltimore 1948). – W. SPOERRI: Späthellenist. Ber. über Welt, Kultur und Götter (1959). – I. SELLNOW: Grundprinzipien einer Periodisierung der U. (1961). – G. DANIEL: The idea of prehistory (London 1962). – R. POPKIN: Isaac La Peyrère (Leiden 1987). – A. J. DROGE: Homer or Moses? Early Christian interpret. of the hist. of culture (1989). – M. WITTE: Die bibl. U. (1998). – CH. BULTMANN: Die bibl. U. in der Aufklärung (1999).

 

CH. BULTMANN

 

 

J. Ritter / K. Gründer / G. Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Darmstadt 2001, S. 360-363.

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