HWPh

Erinnerung

Sur l´eau 2008. 5. 30. 23:10

Erinnerung. Der philosophische Begriff der E. steht in der Wirkungsgeschichte des platonischen Anamnesisbegriffes [1]. Er ist daher zu unterscheiden von dem psychologischen Vermögen des Gedächtnisses. ARISTOTELES versteht entsprechend die Anamnesislehre aus dem platonischen ‹Menon› [2] dahin, daß lediglich ein Vorherwissen des Allgemeinen gemeint sei, welches man im Besonderen gleichsam wiedererkennt [3]. Dagegen ist das E.-Vermögen als Gedächtnis die Fähigkeit, Vorstellungen in einem zeitlichen Zusammenhang zu behalten. E. in diesem Sinne entsteht aus der Wahrnehmung. Wahrnehmung haben zwar alle Lebewesen, doch nur ein Teil der Lebewesen hat auch E. Diese führt bei den Menschen vor allem zur Erfahrung, durch die sie Wissenschaften und Künste erlangen [4]. Diese Bestimmungen bleiben, vielfältig abgewandelt, in der von Aristoteles ausgehenden Tradition wirksam; noch für LOCKE sind Ideen «nothing but actual perceptions in the mind»; er definiert daher Gedächtnis (memory) als «power (ability in the mind) to revive perceptions» [5], in der Nachfolge von HOBBES, der unter Gedächtnis «decaying sense» (zerfallende Empfindung) gleichbedeutend mit «imagination» (Einbildung) versteht [6]. Auch WITTGENSTEIN unterscheidet noch in dieser Tradition Erinnern von seinem Erlebnisin halt, doch weist er hin auf die dann entstehende Aporie, wie man mit einem solch leeren Begriff des Erinnerns erkennen soll, daß es Erinnern ist, wenn man sich erinnert, denn «den Begriff des Vergangenen lernt ja der Mensch, indem er sich erinnert» [7].

    Auf dieses Problem, gekleidet in die sophistische Frage, wie man etwas suchen könne, von dem man überhaupt nicht weiß, was es ist [8], antwortet PLATON, daß das Suchen und Lernen ganz und gar Anamnesis ð (s.d.) ist [9], und zwar die E. an ein Wissen der Ideen, mit dem wir schon präexistent begabt sind [10].

    Ebenso beschreibt AUGUSTIN das Lernen der Begriffe: «Nihil esse aliud discere ista, quorum non per sensus haurimus imagines, sed ... sicuti sunt, per se ipsa intus cernimus, nisi ea, quae passim atque indisposite memoria continebat, cogitando quasi colligere atque animadvertendo curare, ut tamquam ad manum posita in ipsa memoria ...» (Solches, von dem wir nicht durch die Sinne Bilder schöpfen, sondern ... so, wie es ist, durch sich selbst erkennen, zu lernen, ist nichts anderes als das, was das Gedächtnis verstreut und ungeordnet enthielt, durch Denken gleichsam zu sammeln und durch aufmerksame Hinordnung sich zu bemühen, daß es im selben Gedächtnis gleichsam zur Hand liegt) [11]. Doch der christliche Denker treibt die Reflexion weiter in die Innerlichkeit als Platon: Nicht die Ideen werden erinnert, sondern nur das Erinnern selbst: «Ergo et meminisse me memini ...» (Also erinnere ich mich auch, mich erinnert zu haben) [12], wozu auch das Vergessen als «privatio memoriae» (Ermangeln des Gedächtnisses) gehört: «memoria retinetur oblivio» (im Gedächtnis wird das Vergessen festgehalten) [13]. Das heißt, die memoria ist der Ort, in dem wir immer schon in die Wahrheit hineingebunden sind und wo wir darum Gott finden [14].

    In der Folge des Streites um die eingeborenen Ideen in der Aufklärung erfährt der Begriff der E. seine weitere Prägung [15]; er entwickelt sich nun allmählich, entsprechend den Wandlungen der Metaphysik, von einem Zentralbegriff der Metaphysik zu einem wichtigen Begriff der Geschichtsphilosophie bzw. der Naturphilosophie und wird schließlich ganz auf die Einheit der Subjektivität bezogen.

    DESCARTES versteht das Aufdecken der eingeborenen Ideen, die er allerdings unter seinem Ansatz des universalen Zweifels nur als Denkbestimmungen (cogitandi modi) für irrtumsfrei gelten läßt [16], derart: «ut ... non tam videar aliquid novi addiscere, quam eorum quae iam ante sciebam reminisci» (daß ... ich weniger etwas Neues zu lernen scheine, als mich dessen zu erinnern, was ich schon vorher wußte) [17].

    Vor allem aber LEIBNIZ macht gegen den Sensualismus Lockes die Anamnesislehre Platons wieder geltend [18]. Er wendet sich gegen die Annahme Lockes, das Gedächtnis als leeres Vermögen (faculté nue) zu verstehen, denn die eingeborenen Ideen sind nicht nur Formen der Gedanken, sondern deren innere Gegenstände, die daher subsistieren [19]. Doch kritisiert er auch die Anamnesislehre Platons, insofern sie mit dem Argument der Präexistenz der Seelen begründet wird [20]. Die Wahrheit der platonischen Anamnesis (reminiscense) ist ihm, daß wir nichts lernen können, «dont nous n'ayons déja dans l'esprit l'idée qui est comme la matiere dont cette pensée se forme» [21]. Der Gedanke seiner ‹Monadologie›, daß die Monade nie ganz ohne Vorstellungen ist (les petites ou insensibles perceptions) [22] und daß die Seelen ihre Vorstellungen durch Gedächtnis (memoire) verknüpfen [23], dient ihm dazu, den Zusammenhang herzustellen, der jedes Seiende mit dem Universum verbindet sowie die Identität des Individuums in seinen verschiedenen Zuständen konstituiert: «On peut même dire qu'en consequence de ces petites perceptions le present est gros de l'avenir et chargé du passé, que tout est conspirant» [24]. Und selbst wenn das Individuum keine ausdrückliche E. (souvenir exprés) an die kleinen Vorstellungen mehr besäße und nur ein höherer Geist ihre Spuren noch erkennen könnte, würden sie doch diese E. im Laufe der Entwicklung wieder erwecken: «Mais elles [sc. ces perceptions insensibles] donnent même le moyen de retrouver ce souvenir au besoin par des developpements periodiques qui peuvent arriver un jour» [25].

    Damit ist es möglich geworden, den metaphysischen Zusammenhang, in welchen der E.-Begriff den Geist von Platon bis Descartes stellte, zu übertragen auf das Feld der menschlichen Subjektivität, auf Geschichte und Individuum: E. bekommt nun die Aufgabe, die Einheit von Geschichte bzw. Individualität zu stiften. Darum weist DIDEROT in der ‹Encyclopédie› nach dem Beispiel Bacons der E. das Gebiet der Geschichte zu, der alles zugehört, was nicht in den Bereich der raison oder der imagination fällt [26].

    1765 werden die ‹Nouveaux Essais› von Leibniz gedruckt und üben sofort einen starken Einfluß aus. BONNET verbindet Leibniz und Locke, indem er zwar das Gedächtnis als Assoziationsvermögen bestimmt, aber eine Theorie der Seelenwanderung annimmt, nach welcher der Mensch «sa propre personnalité ou le souvenir de ses états passés» bewahrt, was dadurch möglich ist, daß das aktuelle Gehirn in sich ein anderes enthält, dessen dauernde Eindrücke sich erst in einem anderen Leben entwickeln [27]. LESSING nimmt diese Theorie Bonnets auf, wendet sich aber gegen eine direkte E. früherer Zustände der Seele, da sie gegenwärtiges freies Handeln beeinträchtigen würde. Doch den Zusammenhang der Geschich te der Menschen betont auch er: «Was ich auf itzt vergessen muß, habe ich denn das auf ewig vergessen?» [28]. J. G. SCHLOSSER führt die Hypothese Lessings fort: Am Ende der Wanderung der Seele durch die Körper, wenn die Seele eine ausreichende Verfeinerung erfahren hat, «so lasse Er [sc. Gott] alle diese Erinnerungen auf einmal wieder in ihm erwachen und ihn so einige Zeit, ganz ohne Körper, ruhen» [29]. Gegen Schlosser bestreitet HERDER die Vorstellung der Seelenwanderung und erklärt die E. an mögliche frühere Zustände der Seele auf ganz natürliche Weise als E. an die früheste Kindheit [30]. In seinen ‹Ideen› jedoch versteht er die Seele in Anlehnung an Leibniz als «Spiegel des Weltalls» [31], und die Entwicklung ihrer Kräfte bis zu ihrer höchsten Stufe ist das Ziel der Bildung zur Humanität, die die Philosophie der Geschichte darstellt [32]. Allerdings ist die Geschichte dieser Bildung nicht anders möglich als durch Sprache, indem sie die Erkenntnisse der Anschauung «durchs Wort dem Gedächtnis, der Rück-E., dem Verstande, ja endlich dem Verstande der Menschen, der Tradition, einverleibt» [33].

    Hieran schließt sich der Gebrauch des Begriffes ‹E.› im deutschen Idealismus sowohl in seinem geschichts-philosophischen als auch in seinem naturphilosophischen Sinn an: In seiner Homburger Zeit (1798–1800) beschreibt HÖLDERLIN in seinen theoretischen Entwürfen das Dichten als Erinnern: «So wie die Erkenntnis die Sprache ahndet, so erinnert sich die Sprache der Erkenntnis» [34]. In der gleichen Zeit begreift er die Tragödie als verstandenes Leben, als E., gegen den blinden Geschichtsvorgang: In der freien Kunstnachahmung wird der Prozeß des Lebens in seinem Werden und Vergehen verstanden als «ein furchtbarer, aber göttlicher Traum. Die Auflösung also als notwendige, auf dem Gesichtspunkt der idealischen E., wird als solche idealisches Objekt des neuentwickelten Lebens ...». In dem reproduktiven Akt der idealischen Auflösung, also der tragischen Dichtung, entsteht «aus der Summe dieser in einem Moment unendlich durchlaufenen Empfindungen des Vergehens und Entstehens ein ganzes Lebensgefühl, und hieraus das einzig ausgeschlossene, das anfänglich aufgelöste in der E. ...» [35]. E. vermag derart den Zusammenhang des Geschichtsprozesses herzustellen und darin das ursprüngliche Lebensgefühl wiederzuerwecken, als Dichtung.

    Diese Ansätze finden ihre Zusammenfassung bei HEGEL, dem es darum geht, das Vorwissen der klassischen Metaphysik mit der Entwicklung des Geistes in der Geschichte gleichzusetzen [36]. So ist ihm einerseits die Erkenntnis des Wesens einer Sache ein vermitteltes Wissen, indem sie beim Sein als bei einem Anderen, dem Sein selbst, beginnt und damit über es hinaus – oder in es hineingeht: «Erst indem das Wissen sich aus dem unmittelbaren Sein erinnert, durch diese Vermittlung findet es das Wesen» [37]. Ebenso begreift Hegel andererseits das Werden des Geistes in der Geschichte als sich vermittelndes Werden, als E.: «Indem seine [sc. des Geistes] Vollendung darin besteht, das was er ist, seine Substanz, vollkommen zu wissen, so ist dies Wissen sein Insichgehen, in welchem er sein Dasein verläßt und seine Gestalt der E. übergibt» [38]. In der Aufeinanderfolge der Gestalten der Geschichte, die einander aufheben, ist die E. das verbindende Band, als «Er-Innerung ... das Innre und die in der Tat höhere Form der Substanz». Sie findet ihr Ziel im absoluten Wissen; Geschichte und Wissenschaft des erscheinenden Wissens müssen einander durchdringen: «Beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die E. und die Schädelstätte des absoluten Geistes» [39].

    Die historische Schule lehnt den Hegelschen Gedanken von der Geschichte als Zusichkommen des Geistes im Namen des Individuellen ab [40], aber dem forschenden Geist des Historikers wird der Zusammenhang der Geschichte offenbar. Der Methodologe der historischen Schule DROYSEN formuliert: Das Geschehene der Geschichte ist nur als «er-innert, soweit und wie es der wissende Geist hat» [41]. E. ist ihm der Ausgangspunkt, die Bedingung der Möglich keit historischer Forschung: «Die historische Forschung setzt die Reflexion voraus, daß auch der Inhalt unseres Ich ein vermittelter, gewordener, ein historisches Resultat ist. Die erkannte Tatsache der Vermittlung ist die E. (νάμνησις)» [42]. DILTHEY differenziert die Gedanken Droysens, indem er das Erlebnis als erstes Gegebenes für die historische Erkenntnis beschreibt und E. als Ermöglichung des Zusammenhangs der Erlebnisse angibt: «Das erinnerte Erlebnis ist nun für das Bewußtsein, das in dem gegenwärtigen Erlebnis lebt, transzendent ... So ist der Zeitverlauf und die ihn zusammenfassende E. der objektive Grund für das Auftreten des Transzendenzbewußtseins vom Erlebnis aus» [43].

    Diese E. des historischen Sinns ist verschieden bewertet worden. NIETZSCHE hat das «Erinnern als ein Einrubrizieren und Einschachteln» [44] im Namen des Lebens angegriffen: «Es ist möglich, fast ohne E. zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben», und er meint damit insbesondere das historische Verstehen: «Es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinn, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt» [45].

    In solcher Entgegensetzung von Historie und Leben trennen sich, wie A. HEUSS feststellt, «Ge schichte als E.» und «Geschichte als Wissenschaft». «Geschichte als E.» meint: «Der Mensch bemächtigt sich der Vergangenheit primär im Dienste seiner Lebensbedürfnisse» [46]. Geschichte als Wissenschaft jedoch läßt «nach dem Sieg des Historismus» ein solches Lebensverhältnis zur Geschichte nicht mehr zu: «Wir kommen also um das Ergebnis nicht herum, daß weder die wissenschaftliche Geschichte imstande ist, in ihrer Verlängerung ‹E.› zu werden, noch die geschichtliche E. ..., sich zu verwirklichen» [47].

    Überwindung des Historismus findet sich in Anknüpfung an Hegel bei J. Ritter und H.-G. Gadamer. J. RITTER begreift die Geisteswissenschaften als das Organ, in welchem die moderne Gesellschaft ihre Geschichtslosigkeit kompensiert und derart Leben und Wissenschaft miteinander vermittelt: «Während sonst die geschichtliche Mnemosyne in der realen Kontinuität des geschichtlichen Lebens das je die Gegenwart selbst repräsentierende Vergangene und nur dies erinnert, übernehmen es die Geisteswissenschaften, das zu vergegenwärtigen, was ohne sie ... notwendigerweise für die Gesellschaft mehr und mehr bedeutungslos werden und schließlich überhaupt aus dem Zusammenhang ihrer Welt verschwinden müßte» [48]. GADAMERS Analyse des hermeneutischen Bewußtseins möchte «dem Wollen des Menschen ... aus der Wahrheit des Erinnerns etwas entgegensetzen: das immer noch und immer wieder Wirkliche» [49]. Er beschreibt Verstehen «als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln» [50], dies wird jedoch nie ein vollendetes Wissen wie in Hegels hybridem Anspruch auf absolutes Wissen [51], sondern «Behalten und Vergessen und Wiedererinnern gehören der geschichtlichen Verfassung des Menschen an und bilden selbst ein Stück seiner Geschichte und Bildung» [52].

    Während so von Hegel ausgehend der geschichts- philosophische Sinn des Begriffes ‹E.› bis in die heutige Diskussion reicht, wirkt andererseits auch ein durch Schelling geprägtes naturphilosophisches Moment des Begriffes auf die gegenwärtige Erörterungen ein. SCHELLING versteht die idealistische Vernunft als das, was die noch unbewußten Potenzstufen der Natur übersteigt. In dem «transzendentalen Gedächtnis» der Vernunft werden die Stufen, die die Naturphilosophie beschreibt, ins Bewußtsein eingeholt und so der Weg bis hin zur Selbstanschauung vollendet. Darum formuliert er mit Beziehung auf Platon: «Alles Philosophieren besteht in einem Erinnern des Zustandes, in welchem wir eins waren mit der Natur» [53]. Später deutet Schelling dies als verschiedene Zustände des Ich, einen allgemeinen unbewußten als die «transzendentale Vergangenheit» des Ich und einen anderen individuellen bewußten, in welchem das Ich «nur noch gleichsam die Monumente, die Denkmäler jenes Weges» findet. Diesen Weg wieder aufzuhellen, ist Aufgabe der Philosophie: «Die Philosophie ist insofern für das Ich nichts anderes als eine Anamnese, E. dessen, was es in seinem allgemeinen (seinem vorindividuellen) Sein getan und gelitten hat» [54].

    Nimmt man dem Schellingschen Begriff der E. den transzendentalen Charakter und seinem Naturbegriff den metaphysischen Schein, so gelangt man zu einem wichtigen Begriff der Psychoanalyse Freuds [55]. Nach FREUD «sind unsere E., die am tiefsten uns eingeprägten nicht ausgenommen, an sich unbewußt ... Was wir unseren Charakter nennen, beruht ja auf den E.-Spuren unserer Eindrücke, und zwar sind gerade die Eindrücke, die am stärksten auf uns gewirkt hatten, die unserer ersten Jugend, solche, die fast nie bewußt werden» [56]. Neurotische Erkrankungen sind dadurch gekennzeichnet, daß die Erkrankten unbewußte E.-Lücken, Verdrängungen, in einem über das normale Maß hinausgehenden Umfang zeigen, so daß die Aufgabe der psychoanalytischen Behandlung in die Formeln zu fassen ist: «Alles pathogene Unbewußte in Bewußtes umzusetzen» oder «alle E.-Lücken des Kranken auszufüllen, seine Amnesien aufzuheben» [57].

    MARCUSE übernimmt den psychoanalytischen Begriff der E. und wendet ihn als kritischen Maßstab für die Veränderung der Gesellschaft an. Der Wahrheitsgehalt der E. besteht in ihrer Funktion, «Versprechungen und Möglichkeiten zu bewahren, die vom erwachsenen zivilisierten Individuum zwar verleugnet ... werden, die aber in seiner dämmrigen Frühe einmal erfüllt worden waren und niemals ganz dem Vergessen anheimfielen ... Die recherche du temps perdu wird zum Vehikel künftiger Befreiung» [58]. Von diesem psychoanalytischen Ansatz her verwendet Marcuse den Begriff auch als geschichts-philosophische Kategorie: «In den persönlichen Begebenheiten, die im individuellen Gedächtnis neu erstehen, setzen sich die Ängste und Sehnsüchte der Menschheit durch – das Allgemeine im Besonderen. Die Geschichte ist es, die die E. bewahrt ...» [59].

    In einem anderen Sinn, im Namen der Subjektivität sich gegen die Geschichtsphilosophie Hegels wendend und die Begriffe des Idealismus in solche der Existenzdialektik umsetzend, gebraucht KIERKEGAARD den Begriff der E. Für ihn ist das existierende Individuum und seine Freiheit der Ausgangspunkt und daher kein über es hinausreichender Zusammenhang, sei er metaphysisch, sei er geschichtsphilosophisch, vorgegeben, den es in der E. einholen könnte [60]. Er verwendet den Ausdruck «Wiederholung», um damit die Spontaneität der E. zu betonen: «Wie derholung ist ein entscheidender Ausdruck für das, was E. bei den Griechen gewesen ist ... Wiederholung und E. stellen die gleiche Bewegung dar, nur in entgegengesetzter Richtung; denn woran man sich als Gewesenes erinnert, das wird in rückwärtiger Richtung wiederholt; wohingegen die eigentliche Wiederholung E. in Richtung nach vorn ist» [61]. Was Hegel unter Vermittlung begreift, versteht Kierkegaard als Wiederholung [62]; er macht damit geltend, daß die Freiheit in der Existenz sich selbst in ihren Möglichkeiten ergreift und zusammenfaßt: «Das Dasein, das gewesen ist, entsteht jetzt» [63]. Das heißt einerseits, die Vermittlung geschieht nicht im Objektiven, in der Realität, sondern «die Frage geht hier näher um eine Wiederholung im Bewußtsein, mithin um die E.» [64]. Andererseits besteht darin die Kontinuität, die die Bewegung der Existenz zusammenhält [65]: «Die E. wird einem Menschen den ewigen Zusammenhang im Leben bewahren und ihm sicherstellen, daß sein irdisches Dasein uno tenore wird, ein einziger Atemzug» [66]. Der Sinn dieser Kategorie ist für Kierkegaard, in diesem Begriff der E. oder Wiederholung das Denken an seine Grenze zu führen: «die Wiederholung ist das Interesse ..., an welchem die Metaphysik strandet» [67], bis hin zum «ewigen Erinnern des Schuldbewußtseins» [68], um von hier das Verhältnis der Subjektivität zum Religiösen zu bestimmen.

     In der von Kierkegaard angegebenen Richtung denkt HEIDEGGER, allerdings unter dem Vorrang der Seinsfrage und nicht der Bestimmung der Existenz, wenn er sagt: «Der fundamentalontologische Grundakt der Metaphysik des Daseins ... ist ... eine Wieder-E. Echte E. muß aber jederzeit das Erinnerte verinnerlichen, d.h. es sich mehr und mehr in seiner innersten Möglichkeit wieder entgegenkommen lassen» [69].

    Dagegen verweist nach HUSSERL die E. das Ich gerade auf seine Leistung, in der es sich als Einheit konstituiert: «Das eine reine Ich ist konstituiert als Einheit mit Beziehung auf diese Stromeinheit [sc. des Erlebnisstromes], das sagt, es kann sich als identisches in seinem Verlauf finden. Es kann also in Wieder-E.en auf frühere Cogitationen zurücksehen und seiner als des Subjekts dieser wiedererinnerten bewußt werden» [70].

    In ähnlicher Weise gebraucht schon BERGSON den Begriff der E., um die Kontinuität einer Person auszusagen. Er begreift diese als Dauer, in der das Ich sich unmittelbar empfindet [71]: «Il n'y a pas de conscience sans mémoire, pas de continuation d'un état sans l'addition, au sentiment présent, du souvenir des moments passés. En cela consiste la durée. La durée intérieure est la vie continue d'une mémoire qui prolonge le passé dans le présent ...» [72].

     Dieses Ineinander von Vergangenheit und Gegenwart in der E. herzustellen, weist PROUST dem Dichter als Aufgabe zu: «Ce que nous appellons la réalite est un certain rapport entre ces sensations et ces souvenirs qui nous entourent simultanément – rapport que supprime une simple vision cinématographique ... rapport unique que l'écrivain doit retrouver pour en enchaîner à jamais dans sa phrase les deux termes différents» [73].

    Auf Bergson und Proust beruft sich ADORNO, doch betont er die Subjektivierung des Begriffes ‹E.› noch mehr, indem er unter dem Eindruck seiner kulturkritischen Resignation die E. ganz von der Gegenwart her bestimmt und gefährdet sein läßt: «Keine E. [ist] garantiert, an sich seiend, indifferent gegen die Zukunft dessen, der sie hegt; kein Vergangenes ... gefeit vorm Fluch der empirischen Gegenwart. Die seligste E. ... kann ihrer Substanz nach widerrufen werden durch spätere Erfahrung» [74].

    Schließlich hält auch BLOCH trotz seiner Ablehnung der metaphysischen Tradition der Anamnesis von Platon bis Hegel im Namen des utopischen Veränderungswillens [75] fest an einem Begriff der E., die im denkenden Subjekt Vergangenheit und Zukunft verbindet: «E. wie Vorwegnahme treten als ebenso einander zuordnenbare wie in ihrer Richtung entgegengesetzte Zugangsakte auf: Der eine, retentionale, wendet sich gegen die fressende Zeit ... der andere, der protentionale Akt, geht mit der gebärenden Zeit» [76]. E. und Hoffnung erscheinen von ihrem Ausfall im Vergessen her der Besinnung als gleich: «E. [erscheint] als Mahnung, Hoffnung als Eingedenken; beides ist im Gewissens-, Wissensbezug auf ein Unterlassenes, Unbesorgtes, zu Besorgendes utopisch geeint» [77].

 

    Anmerkungen.

 

[1] Vgl. L. OEING-HANHOFF: Zur Wirkungsgesch. der platonischen Anamnesislehre, in: Collegium philos., Festschr. J. Ritter (1965) 240–271.

 

[2] PLATON, Menon 81 c/d.

 

[3] ARISTOTELES, Anal. pr. 67 a 22ff.

 

[4] De memoria 450 a 15ff.; Met. 980 a 27–981 a 2; Anal. post. 100 a 2ff.; vgl. auch De sensu et sensitiva 436 a 6–10.

 

[5] LOCKE, Essay conc. human understanding II, 10, hg. A. C. FRÄSER (Nachdruck New York 1959) 194.

 

[6] HOBBES, Leviathan I, 2, hg. M. OAKESHOTT (Oxford 1960) 10.

 

[7] L. WITTGENSTEIN: Philos. Untersuch. 8 (1969) 542f.

 

[8] PLATON, Menon 80 d 5f.

 

[9] a.a.O. 81 d 4f.

 

[10] Phaidon 75 c 10ff.

 

[11] AUGUSTIN, Conf. X, 11, 18.

 

[12] a.a.O. 13, 20.

 

[13] 16, 24.

 

[14] Vgl. 17, 26–25, 36; vgl. G. SÖHNGEN: Der Aufbau der augustinischen Gedächtnislehre (Conf. X, 6–27), in: Die Einheit der Theol. (1952) 63–100.

 

[15] Vgl. J. G. WALCH: Philos. Lex. (41775) s. v. ‹E.›.

 

[16] DESCARTES, Medit. III, 13 = Werke, hg. ADAM/TANNERY (= A/T) 7, 40; vgl. a.a.O. III, 6 = A/T 7, 37.

 

[17] V, 4 = A/T 7, 64.

 

[18] Vgl. LEIBNIZ, Nouveaux Essais, Préface = Philos. Schriften, hg. GERHARDT (= PSG) 5, 41f.

 

[19] a.a.O. II, 10 = PSG 5, 128.

 

[20] Discours de met. 26 = PSG 4, 451f.; vgl. Nouveaux Essais II, 27 = PSG 5, 222.

 

[21] Discours de mét. 26 = PSG 4, 451.

 

[22] Monadol. § 21 = PSG 6, 610.

 

[23] a.a.O. §§ 19. 26 = PSG 6, 610. 611.

 

[24] Nouveaux Essais, Préface = PSG 5, 48.

 

[25] ebda.

 

[26] Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné..., hg. DIDEROT/d'ALEMBERT 1 (1751) XLVIIff.; vgl. 10 (1765) 326ff.

 

[27] CH. BONNET: La palingénésie philos. ... (Genf 1769) Part. XVI, 2. Bd., 135f.

 

[28] G. E. LESSING: Die Erziehung des Menschengeschlechts (1781) § 99.

 

[29] J. G. SCHLOSSER: Über die Seelenwanderung (1781). Kleine Schriften 3 (1783) 71.

 

[30] J. G. HERDER: Über die Seelenwanderung (1782) = Werke, hg. B. SUPHAN (= WS) 15, 254f.

 

[31] Ideen zur Philos. der Gesch. der Menschheit (1784–91) V, 6 = WS 13, 199.

 

[32] a.a.O. IX, 1 = WS 13, 352f.

 

[33] IX, 2 = WS 13, 357.

 

[34] HÖLDERLIN, Verfahrungsweise des poetischen Geistes, Werke, hg. F. BEISSNER (1961) IV/1, 261; vgl. W.-MICHEL: Das Leben Hölderlins (1963) 330ff.

 

[35] HÖLDERLIN, Das Werden im Vergehen a.a.O. IV/1, 283. 284.

 

[36] Vgl. J. RITTER: Hegel und die frz. Revolution (1957) 12ff.

 

[37] HEGEL, Logik II, hg. G. LASSON (1963) 3; vgl. 99.

 

[38] Phänomenol. des Geistes, hg. J. HOFFMEISTER (61952) 563; vgl. 524. 39 u.ö.

 

[39] a.a.O. 564.

 

[40] Vgl. H.-G. GADAMER: Wahrheit und Methode (21965) 185ff.

 

[41] J. G. DROYSEN: Grundriss der Historik (1858) § 1 M = Historik, hg. R. HÜBNER (1960) 325.

 

[42] a.a.O. § 19 = 332.

 

[43] W. DILTHEY, Ges. Schriften 7, 29.

 

[44] FR. NIETZSCHE, Aus dem Nachlaß = Werke, hg. K. SCHLECHTA 3, 859.

 

[45] Vom Nutzen und Nachteil der Hist. = 1, 213.

 

[46] A. HEUSS: Verlust der Gesch. (1959) 31.

 

[47] a.a.O. 68.

 

[48] J. RITTER: Die Aufgabe der Geisteswiss. in der modernen Gesellschaft (1963) 27.

 

[49] GADAMER, a.a.O. [40] XXIV.

 

[50] 274f.

 

[51] 285.

 

[52] 13.

 

[53] F. W. J. SCHELLING: Allg. Deduktion des dynamischen Prozesses oder der Kategorien der Physik (1800) = Werke, hg. K. F. A. SCHELLING 4, 77.

 

[54] Zur Gesch. der neueren Philos. (1827) = 10, 94f.

 

[55] Vgl. O. MARQUARD: Über die Depotenzierung der Transzendentalphilos. (Habil. schr. Münster 1963).

 

[56] S. FREUD, Ges. Werke, hg. A. FREUD 2/3, 545.

 

[57] a.a.O. 11, 292.

 

[58] H. MARCUSE: Triebstruktur und Gesellschaft (1968) 24f.

 

[59] Der eindimensionale Mensch (1967) 117f.

 

[60] Vgl. W. ANZ: Philos. und Glaube bei S. Kierkegaard. Z. Theol. u. Kirche 51 (1954) 50–105.

 

[61] S. KIERKEGAARD, Samlede Vaerker1 (= SV) 3, 173 = Die Wiederholung, dtsch. E. HIRSCH (= H) 3; vgl. SV 4, 179 = Philos. Brocken H 7.

 

[62] SV 3, 189 = Die Wiederholung H 21f.

 

[63] ebda. = H 22.

 

[64] Papirer IV, B 1, 150 = Johannes Climacus H 159.

 

[65] SV 7, 268 = Unwiss. Nachschrift 2. Teil, dtsch. H. M. JUNGHANS 13.

 

[66] SV 6, 16 = Stadien H 10.

 

[67] SV 4, 290f. = Der Begriff Angst H 15f. Anm.; vgl. SV 3, 189 = Die Wiederholung H 22.

 

[68] SV 7, 466f. = Unwiss. Nachschrift 2. Teil a.a.O. [65] 245f.

 

[69] M. HEIDEGGER: Kant und das Problem der Met. (31965) 211.

 

[70] E. HUSSERL: Ideen ... II = Husserliana 4 (Den Haag 1952) 112f.

 

[71] H. BERGSON: Essai sur les données immédiates de la conscience 75 = Oeuvres, éd. du centenaire (Paris 1959) 67.

 

[72] Introduction à la mét. 200f. = 1411.

 

[73] M. PROUST: A la recherche du temps perdu VIII, le temps retrouvé (Gallimard, Paris 1954) 248.

 

[74] TH. W. ADORNO: Minima Moralia (1962) 219.

 

[75] E. BLOCH: Philos. Grundfragen I (1961) 23; vgl. Das Prinzip Hoffnung (1959) 329f.

 

[76] Philos. Grundfragen I a.a.O. 76.

 

[77] 79.

 

C. v. BORMANN

 

 

Jochahim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Darmstadt 1971, S. 636-642.

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