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Gedächtnis

Sur l´eau 2008. 5. 30. 23:14

Gedächtnis (griech. μνήμη, lat. memoria;). Der Begriff ‹G.› wird in der wissenschaftlichen Psychologie ähnlich unbestimmt und unterschiedlich verwendet wie in der Umgangssprache. Man bezeichnet damit:

    1. die hypostasierte Fähigkeit von Organismen zu Reproduktionen irgendwelcher Art (z.B. Vererbung, Instinktverhalten, Gewohnheiten, Erinnerungen) und zugleich die Summe der dadurch erworbenen kollektiven und individuellen Dispositionen, Spuren oder Engramme (E. HERING [1]);

    2. ein theoretisches Konstrukt zur Beschreibung der Tatsache, daß das Verhalten und Erleben eines Organismus zu einem bestimmten Zeitpunkt durch sein Verhalten und Erleben zu einem früheren Zeitpunkt beeinflußt wird (W. STERN: «G. ist Vergangenheitsbedingtheit des Erlebens» [2]);

    3. die explikativ gemeinte psychische und/oder organische Bedingung der Möglichkeit eines Organismus, aus Erfahrung zu lernen, das Gelernte in irgendeiner Form über die zeitliche Dauer des Lernprozesses hinaus zu speichern und unter bestimmten Bedingungen zu einem späteren Zeitpunkt wieder im Verhalten zu aktualisieren (K. KOFFKA: «Alles Lernen beruht darauf, daß wir ein G. haben, d.h. die Tatsache, daß die Vergangenheit für uns, für unseren ganzen Organismus nicht tot ist, sondern uns in irgendei ner Form erhalten bleibt» [3]);

    4. die Tatsache und/oder die Fähigkeit des Organismus, sich an vergangene Erlebnisse mehr oder minder bewußt erinnern zu können (M. OFFNER: G. ist «die Fähigkeit der Seele, früher gehabte Bewußtseinserlebnisse – Inhalte und Ich-Erlebnisse – unter bestimmten Bedingungen, aber ohne Wiederkehr der äußeren Umstände, welche sie erstmals veranlaßt haben, in mehr oder weniger ähnlicher Weise wiederzuerleben» [4]).

    In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß das englische Wort ‹memory› sowohl G. als auch Erinnerung bedeutet und im wissenschaftlichen Sprachgebrauch ebenfalls in dieser doppeldeutigen Art verwendet wird [5].

    Bei der Mehrdeutigkeit des G.-Begriffs, bei der durch die Umgangssprache nahegelegten vermögenspsychologischen Interpretation und bei der philosophiegeschichtlich vermittelten Überlappung psychologischer und physiologischer Definitionskriterien (W. JAMES: «Jede Verbesserung des G. ist also offenbar nur in der Weise möglich, daß für jedes der zu erinnernden Dinge Assoziationen gestiftet werden. Keine noch so intensive Geisteskultur dürfte imstande sein, die allgemeine Fähigkeit eines Menschen zum Behalten zu modifizieren. Diese ist eine physiologische Qualität, die ihm ein für allemal mit seiner Organisation gegeben ist ...» [6]) hat es nicht an Versuchen ge fehlt, das Wort ‹G.› ganz aus dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch zu eliminieren bzw. es durch andere, präziser umschriebene Begriffe zu ersetzen. So schreibt schon J. F. HERBART, daß «die Lehre vom G. und von der Einbildungskraft, von der Sinnlichkeit und von der Vernunft ... ohne Zweifel noch lange ihre Liebhaber behalten [werden]; allein hier kommt es nur darauf an, ob wohl mit und neben den Gesetzen der Mechanik von der unmittelbaren und der mittelbaren Wiedererweckung der Vorstellungen an eine Wirksamkeit solcher besonderen Vermögen, wie G. und Einbildungskraft, könne gedacht werden.» Herbart verneint dies [7]. W. WUNDT betont ebenfalls, daß «dieser der vulgären Psychologie entnommene und aus ihr in die ehemalige Vermögenspsychologie übergegangene Begriff in jedem einzelnen Fall einer besonderen Analyse in die den Erscheinungen zugrunde liegenden elementaren Assoziationsprozesse und ihre Wirkung» bedarf [8]. Viele im 19. Jh. entstandene Studien zur G.-Psychologie bevorzugten dehalb Begriffe wie ‹Assoziation, Disposition, Reproduktion, Vergessen›. Auch R. SEMON versucht, in seiner allgemeinen physiologischen Theorie organischer Reproduktionsvorgänge den Begriff des G. durch den der Mneme zu ersetzen [9].

    Von besonderer begriffsgeschichtlicher Bedeutung erwies sich schließlich die von J. B. WATSON ver tretene und von vielen behavioristisch orientierten Lernpsychologen übernommene Auffassung: «Anstatt den Begriff G. zu gebrauchen, redet der Behaviorist davon, wieviel von einer Fertigkeit während einer Periode ohne Übung bewahrt und wieviel eingebüßt wurde. Gegen den Begriff des G. haben wir einzuwenden, daß er mit allen möglichen philosophischen und subjektiven Konnotationen behaftet ist» [10]. Im angloamerikanischen Sprachgebiet wurde in der Folgezeit der Begriff ‹memory› nur sehr selten verwendet; statt von G.-Psychologie sprach man fast ausschließlich von Lernpsychologie; der Begriff selbst wurde weitgehend durch Konzepte wie ‹retention, actualization, recognition, recall, extinction, forgetting› usw. ersetzt. Bedeutende ältere Lehrbücher enthalten das Wort ‹memory› nicht einmal im Sachwortregister [11]. Erst seit etwa 15 Jahren findet unter dem Einfluß der Übertragung von Computermodellen auf Probleme des menschlichen Verhaltens und begünstigt durch verschiedene neurophysiologische Forschungsansätze der Terminus ‹G.› (bzw. memory) als Inbegriff informationsverarbeitender und -speichernder Prozesse und Systeme wieder zunehmende Verwendung.

    Der Beginn der experimentalpsychologischen G.-Forschung wird durch das 1885 erschienene Buch von H. EBBINGHAUS ‹Über das G.› markiert [12]. Angeregt durch die Verwendung quantitativer Methoden in der Psychophysik und beeinflußt von der Assoziationstheorie der englischen Empiristen, verwendete Ebbinghaus den G.-Begriff explizit in einem sehr weiten Sinn und verstand darunter alle Vorgänge des (sprachlichen) Lernens und Behaltene, der Assoziation und Reproduktion. Mit der Konstruktion sinn- armer Silben als G.-Material, mit der Benutzung statistischer Verfahren und mathematischer «Modelle» zur Analyse und Beschreibung der im Selbstversuch gewonnenen Daten und mit der Einführung spezieller Methoden zur Prüfung der Behaltensleistung schuf Ebbinghaus die methodischen Grundlagen für ungezählte spätere Untersuchungen des Lernens und des G. Er fand auf diese Weise z.B., daß die Anzahl der zum Erreichen des Lernkriteriums notwendigen Wiederholungen mit zunehmender Silbenzahl zuerst schnell, dann langsamer und schließlich sehr langsam anwächst; daß das Behalten des Lernmaterials zum Teil von der Anzahl der vorausgegangenen Wiederholungen abhängt; daß durch zeitliche Verteilung der Wiederholungen der günstigste Effekt erzielt werden kann; daß das Erlernen von sinnvollem Material wesentlich leichter ist als das Einprägen sinnarmer Silben und daß der Vorgang des Vergessens anfangs sehr schnell, dann langsamer und schließlich mit äußerster Langsamkeit verläuft. Diese Ergebnisse inter pretierte Ebbinghaus im Sinne der damals vorherrschenden Assoziationstheorie. Mehr als 80 Jahre später konstatierte R. K. YOUNG: «In the 1880's Ebbinghaus did extensive work using serial learning procedures, formulating hypotheses to explain his results; these have lasted until the present day ...» [13].

    Die G.-Psychologie entwickelte sich in den vergangenen acht Jahrzehnten keineswegs einheitlich. Dementsprechend wurde auch der G.-Begriff in verschiedenen theoretischen Bezugssystemen unterschiedlich definiert: «Actually, there are four or perhaps five distinct conceptual traditions on the subject of memory, though many psychologists manage to embrace several of these at once. First of all there is the cognitive tradition, embedded in ordinary language and made most explicit in classical mentalistic psychology and its modern descendents. Secondly, there is a broad biological-memory tradition in which concern for brain mechanisms has been most prominent but which includes theories about the accumulated effects of environment upon living systems in general. Expressions such as ‹memory trace› and ‹fixation of experience› occur conspicuously in this tradition. Thirdly, there is the verbal learning tradition which flourished for several decades following its origin with Ebbinghaus, sank into decline during the '30s and '40s, and has recently burst forth again with grea pretierte Ebbinghaus im Sinne der damals vorherrschenden Assoziationstheorie. Mehr als 80 Jahre später konstatierte R. K. YOUNG: «In the 1880's Ebbinghaus did extensive work using serial learning procedures, formulating hypotheses to explain his results; these have lasted until the present day ...» [13].

    Die G.-Psychologie entwickelte sich in den vergangenen acht Jahrzehnten keineswegs einheitlich. Dementsprechend wurde auch der G.-Begriff in verschiedenen theoretischen Bezugssystemen unterschiedlich definiert: «Actually, there are four or perhaps five distinct conceptual traditions on the subject of memory, though many psychologists manage to embrace several of these at once. First of all there is the cognitive tradition, embedded in ordinary language and made most explicit in classical mentalistic psychology and its modern descendents. Secondly, there is a broad biological-memory tradition in which concern for brain mechanisms has been most prominent but which includes theories about the accumulated effects of environment upon living systems in general. Expressions such as ‹memory trace› and ‹fixation of experience› occur conspicuously in this tradition. Thirdly, there is the verbal learning tradition which flourished for several decades following its origin with Ebbinghaus, sank into decline during the '30s and '40s, and has recently burst forth again with grea ter vitality than ever. It is in the verbal-learning literature that memory-words have been most extensively deployed in technical roles. Fourth, a distinctive conceptual tone heavy with metaphor-hardware has emanated from cybernetics theory, though this is perhaps too recent in origin and has too quickly infiltrated the older traditions to qualify as a separate movement of its own. And finally, the remarkable consistency with which specialists in behavior theory and conditioning manage to avoid the term ‹memory› and its cognates altogether demarks this, too, as a major conceptual tradition on the matter, namely, one which in effect denies that memory involves anything of behavior- theoretical importance which is not better addressed in other terms» (W. W. ROZEBOOM [14]).

    Gemeinsames Bezugssystem der älteren G.-Psychologie ist die Assoziationstheorie. So unterschiedliche Forschungsansätze wie die von Ebbinghaus, Thorndike und Pawlow interpretierten ihre Befunde durch impliziten und expliziten Rekurs auf die «Assoziationsgesetze», von denen das der Kontiguität innerhalb der theoretischen Diskussion eine besonders ausgezeichnete Rolle spielte. «Die zeitweilige nervöse Verbindung ist somit das allgegenwärtige physiologische Phänomen in der Welt des Tieres und des Menschen. Zugleich ist sie aber auch ein psychologisches Phänomen – nämlich das, was die Psychologen

‹Assoziation› nennen, mag es sich dabei nun um Kombinationen von Handlungen oder Eindrücken, Buchstaben, Wörtern oder Gedanken handeln. Haben wir irgendeine Ursache, zwischen den vom Physiologen ‹zeitweilige Verbindung› und dem vom Psychologen ‹Assoziation› genannten Vorgang einen Unterschied zu machen? Beide Begriffe sind vollständig miteinander identisch; sie verschmelzen und beschreiben die gleichen Phänomene» [15]. Zu unterscheiden ist dabei allerdings zwischen einer deskriptiven Verwendung des Begriffes ‹Assoziation› im Sinne der Wahrscheinlichkeit, mit der eine Einheit eine andere aktualisiert, und einem explikativen Gebrauch, bei dem die Assoziation als (psychologisch und/oder physiologisch definierte) Ursache der gemeinsamen Auftretenswahrscheinlichkeit angesehen wird.

    Kennzeichnend für die assoziationstheoretische Interpretation des G. ist die Annahme, daß gleichzeitig oder unmittelbar aufeinanderfolgende Erlebnisse eine gemeinsame «Reproduktionsgrundlage» bilden, deren organisches Korrelat (Spur, Engramm, G.-Disposition) während der Behaltenszeit seine separate Identität bewahrt, und daß das Vergessen weniger ein passiver Vorgang in Abhängigkeit von der seit der Einprägung verstrichenen Zeit ist, sondern eher durch retroaktive Hemmung der verhaltensmanifesten Assoziationsglieder durch andere (interferierende) Erlebnisse erklärt  werden muß («Interferenztheorie» des Vergessene) [16].

    Diese theoretischen Annahmen der Assoziationspsychologie sind nicht unwidersprochen geblieben: Schon durch die von O. SELZ und G. E. MÜLLER eingeführten Begriffe der ‹Konstellation› und des ‹Vorstellungskomplexes› wurde der Ansatz wesentlich erweitert [17]. Als grundlegender erwies sich jedoch die Kritik der Gestaltpsychologie. KOFFKA verdeutlicht die unterschiedlichen theoretischen Positionen wie folgt: «Das [Assoziations-] Gesetz wurde etwa so ausgesprochen: Sind Phänomene A, B, C ... gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander mehrmals im Bewußtsein gewesen und tritt eins von ihnen wieder auf, so hat es die Tendenz, die übrigen zu reproduzieren. Besondre Gesetze regeln die Stärke der von einem Glied zu jedem anderen führenden Tendenzen. Dieses Gesetz müssen wir durch ein andres ersetzen: Sind Phänomene A, B, C ... einmal, oder mehrere Male als Glieder einer Struktur dagewesen, und tritt eines von ihnen mit diesem ‹Gliedcharakter› versehen wieder auf, so hat es die Tendenz, von sich aus die gesamte Struktur mehr oder weniger vollständig und scharf zu ergänzen» [18]; und an anderer Stelle: «To explain reproduction we do not need an assumption of special associative bonds; rather the possibility of reproduction follows from the fact of organization and  the general principle of the interaction between trace and process» [19]. Im Mittelpunkt der gestaltpsychologischen Theorie des G. steht also der Begriff der psychophysiologisch isomorphen «Spur», von der postuliert wird, daß sie sich während des Behaltensintervalls in einem autonomen Prozeß gemäß den Gestaltgesetzen verändert, so daß die Reproduktion im Vergleich zum Original entweder nivelliert oder präzisiert wird [20]. Entsprechend der Differenzierung zwischen «memorizing» (verständnisarmes, mechanisches Auswendiglernen) und «organizing» (Problemlösen, Entdecken eines Prinzips, Organisation des Lernmaterials) beim Lernen unterscheidet G. KATONA zwischen individuellen (sich langsam bildenden, rigiden und ohne Verstärkung schnell verblassenden) und strukturellen (sich oft sehr schnell bildenden, anpassungsfähigen, vergessensresistenten) Spuren.

    Werden die Veränderungen der Spur von den Gestalttheoretikern als autonome Prozesse unter dem Einfluß der Gestaltgesetze erklärt, so interpretiert F. C. BARTLETT die Modifikationen des Gelernten während des Behaltensintervalls als Folge von assimilativen Schematisierungsprozessen und den in der Erinnerung sich vollziehenden schöpferischen Rekonstruktionen. Diese den Prinzipien der Rationalisierung und Konventionalisierung unterworfenen Vorgänge (Vermeidung von Widersprüchen, nachträgli che Sinnverleihung) werden durch affektive Bedingungen beeinflußt [21]. Motivationale Determinanten des G. und der G.-Leistungen werden jedoch nicht nur im Bartlettschen Ansatz, sondern auch in der Feldtheorie K. LEWINS (Zeigarnik-Effekt: unerledigte Aufgaben werden im allgemeinen besser behalten als erledigte) [22] und in der Psychoanalyse S. FREUDS («Verdrängung»; «Vergessen» als Fehlleistung) [23] berücksichtigt.

    Unabhängig von der Billigung oder Ablehnung bestimmter gestaltpsychologischer Postulate hat sich das Konzept der «Organisation» als ein heuristisch und theoretisch fruchtbarer Begriff der neueren G.-Forschung erwiesen. H. H. KENDLER [24] vermutet sogar, daß über die Bedeutung organisationaler Faktoren für das Behalten gegenwärtig volle wissenschaftliche Übereinstimmung besteht; die prinzipiellen theoretischen Diskussionen lägen ausschließlich in der Frage nach der Eigenart der Prozesse oder Mechanismen, die der Organisation zugrunde liegen. Organisation heißt in diesem Zusammenhang: «A set of objects or events are said to be organized when a consistent relation among the members of the set can be specified and, specifically, when memberships of the objects or events in subsets (groups, concepts, categories, chunks) is stable and identifiable» [25]. Unterschieden wird dabei zwischen «primärer Organisati on» (zur Beschreibung einer Ordnungs- oder Gruppierungsstrategie, bei der der «Sinn» des Materials nicht berücksichtigt wird) und «sekundärer Organisation» (zur Beschreibung einer Ordnungs- oder Gruppierungsstrategie, bei der semantische und syntaktische Faktoren oder subjektive Erfahrungen mit dem Material dominieren) [26]. Stark beeinflußt wurden die Arbeiten über organisationale Bedingungen der G.-Leistung durch eine Untersuchung von G. A. MILLER über «recoding» [27], in der gezeigt werden konnte, daß sich die Leistungen beim unmittelbaren Behalten nicht auf (7 ± 2) items, sondern auf Einheiten («chunks») beziehen, in denen ein je unterschiedliches Maß an Information organisiert sein kann. Untersucht wurden in diesem Zusammenhang die Auswirkungen kategorialer, sequentieller und hierarchischer Organisation [28]. Umstritten ist dabei, ob sich diese Prozesse assoziationstheoretisch erklären lassen oder ob zusätzliche Annahmen einer kognitiven Theorie des G. notwendig sind [29].

    Forschungsarbeiten zum Problem des Kodierens und Dekodierens von Informationen, von den Computerwissenschaften inspirierte Versuche, menschliches Verhalten teilweise in Analogie zu technologisch realisierbaren Modellen zu beschreiben, und neurophysiologische Untersuchungsergebnisse begünstigten einerseits die begriffliche Unterscheidung zwischen ver schiedenen G.-Komponenten und andererseits die Entwicklung komplexer Strukturmodelle des G. Eine Binnendifferenzierung der G.-Funktion hat innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie eine lange Tradition. Sie geht zurück auf W. JAMES (primäres und sekundäres G.), G. E. MÜLLER (perseverative und assoziative Reproduktionstendenzen), E. MEUMANN (unmittelbares, vorübergehendes und dauerndes Behalten) und W. STERN (unmittelbares und mittelbares G.) [30] und wurde besonders nachhaltig weiterentwickelt durch D. O. HEBB (spekulatives neuro- physiologisches Modell für das unmittelbare und langfristige Behalten, wobei das unmittelbare Behalten auf Grund einer neuralen Resonanzaktivität und das langfristige Behalten durch strukturelle anatomische Veränderungen an den Synapsen erklärt wird) [31], und durch D. E. BROADBENT [32], der ein explizites und prüfbares G.-Modell vorlegte, das den engen Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeit und Erinnerung und die selektive Funktion des G. berücksichtigt.

    Besonders der Ansatz von Broadbent wurde in den folgenden Jahren intensiv weiterentwickelt und führte zur Konstruktion einer Reihe untereinander prinzipiell ähnlicher Modelle [33]. «Many, but not all, represent what we will refer to as ‹boxes-in-the-head›-type of theory of memory: the memory system is thought of as  consisting of several different storage ‹compartments› with mnemonic information being transferred from one compartment to another» [34]. So wird in dem Strukturmodell von R. C. ATKINSON und R. M. SHIFFRIN zwischen drei Speicherungssystemen (sensorisches Register, Kurzzeit- und Langzeitspeicher) und verschiedenen Kontrollprozessen («processes under the voluntary control of the subject such as rehearsal, coding, retrieval, and search strategies ... subject controlled memory processes include any schemes, coding techniques, or mnemonics used by the effort to remember») unterschieden [35]. Bezogen auf die maximale Informationsmenge und auf die zeitliche Dauer, haben die verschiedenen «Speicher» unterschiedliche Kapazität. Im Mittelpunkt des gegenwärtigen Forschungsinteresses stehen die Transformationsprozesse von einem Speicher zum anderen, komplementär dazu die speichertypischen Vorgänge des «Vergessens» und die Formen und Mechanismen des Abrufs gespeicherter Informationen. Dabei wird angenommen, daß die verschiedenen G.-Leistungen sowohl von externen Bedingungen (aufzunehmende Informationsmenge, Art der Information, serielle Position, Zahl der Wiederholungen, Zeitspanne und Art der Aktivität seit dem stimulus-input usw.) als auch von internen Faktoren (Aufmerksamkeit, Einstellung, kognitiver Strategie des Kodierens, der Organisation, des Dekodierens usw.) abhängen [36]. Atkinson und Shiffrin charakterisieren ihr theoretisches Bezugssystem selbst als «extremely general». Die Problematik interindividueller Differenzen der G.-Leistungen bleibt deshalb weitgehend unberücksichtigt. Dabei hatte schon W. WUNDT betont, daß das G. «gerade für die Hervorhebung der individuellen Unterschiede des Erinnerungsvorgangs immerhin ein brauchbarer Hilfsbegriff» sei [37].

    Erstreckte sich das Interesse zu Beginn der experimentellen Forschungsarbeit auf die Unterscheidung verschiedener G.-Typen, so verlagerte es sich bald auf faktorenanalytische Untersuchungen der Speicherkapazität. Die Ergebnisse können als Hinweise auf die selbständigen Faktoren «G.-Umfang» (unmittelbares Behalten), «G. für das langfristige Behalten sinnvollen Materials», «mechanisches G.» und auf einige materialspezifische G.-Faktoren interpretiert werden [38]. Unabhängig davon haben G. S. KLEIN u. Mitarb. unter Berücksichtigung motivationaler und kognitiver Bedingungen interindividuelle Behaltensdifferenzen auf der (in Anlehnung an F. WULF konzipierten) Dimension «levelling – sharpening» (Nivellierung – Präzisierung) zu beschreiben versucht und dabei auf die Beziehung zwischen dieser Dimension und dem Abwehrmechanismus der Verdrängung hingewiesen [39].     Zweifellos gibt es zwischen den differentialpsychologisch konzipierten Prinzipien der kognitiven Kontrolle und den innerhalb der Psychologie des verbalen Lernens allgemeinpsychologisch untersuchten kognitiven Strategien interessante Berührungspunkte.

    Es wurde bereits erwähnt, daß die in jüngster Zeit zu beobachtende Renaissance der G.-Forschung im allgemeinen und die Konstruktion von Strukturmodellen des G. im besonderen nicht zuletzt durch die Intensivierung neurophysiologischer Untersuchungsansätze begünstigt worden ist [40]. Mit der forschungsstrategischen und konzeptuellen Verknüpfung von Verhaltenspsychologie und Neurophysiologie wurde eine der ältesten Traditionen der Gedächtnisforschung weitergeführt. Mit E. R. JOHN gehen viele Forscher davon aus, daß: «There seem to be four fundamental functions that a memory mechanism must perform: (1) the configuration of external and internal stimuli impinging upon an organism, which constitute an experience, must somehow be coded into a neural representation; (2) the neural representation of that experience (coded information about the set of stimuli) must be stored; (3) it must be possible to gain access to the coded information in order to retrieve specific experiences from storage; and (4) the retrieved data must again be decoded into neural activity, which somehow recreates the sensations and qualities of the original  experience and thus constitutes a ‹memory›» [41]. Obwohl die damit aufgeworfenen Fragen wissenschaftlich noch keineswegs beantwortet werden können, lassen sich schon erste theorierelevante Anhaltspunkte erkennen. Im einzelnen sind allerdings die neurophysiologischen Hypothesen und Interpretationen durchweg kontrovers, unabhängig davon, ob es sich um die «Konsolidierungshypothese», um die «Lokalisationshypothese» oder um die «Ribonukleinsäure-Hypothese» des G. handelt [42].

 

    Anmerkungen.

 

[1] E. HERING: Über das G. als eine allg. Funktion der organischen Materie (1870); R. SEMON: Die Mneme (4/51920); E. BLEULER: Die Psychoide (1925).

 

[2] W. STERN: Allg. Psychol. auf personalistischer Grundlage (Den Haag 21950) 253.

 

[3] K. KOFFKA: Die Grundl. der psychischen Entwicklung (21925) 115.

 

[4] M. OFFNER: Das G. (21911) 5.

 

[5] H. D. ENGLISH und A. C. ENGLISH: A comprehensive dict. of psychol. and psychoanal. terms (New York 1958).

 

[6] W. JAMES: Psychol., dtsch. Überarb. M. und E. DÜRR (1961) 297.

 

[7] J. F. HERBART: Lb. zur Psychol. (31882) 47.

 

[8] W. WUNDT: Grundriß der Psychol. (51902) 296.

 

[9] SEMON a.a.O. [1].

 

[10] J. B. WATSON: Behaviorismus, dtsch. Bearb. L. KRUSE (1969) 227.

 

[11] Vgl. z.B. G. A. KIMBLE: Readiness to remember (New York 1969); E. R. HILGARD und D. G. MARQUIS: Conditioning and learning (New York 21961); J. J. MCGEOCH und A. L. IRON: The psychol. of human learning (New York 21952).

 

[12] H. EBBINGHAUS: Über das G. (1885).

 

[13] R. K. YOUNG: Serial learning, in: T. R. DIXON und D. L. HORTON (Hg.): Verbal behavior and general behavior theory (Englewood Cliffs 1968) 122.

 

[14] W. W. ROZEBOOM: The concept of ‹memory›. Psychol. Record 15 (1965) 329–368, zit. 331.

 

[15] zit. nach E. R. HILGARD und G. H. BOWER: Theorien des Lernens (1970) 1, 74.

 

[16] Vgl. J. DEESE: Association and memory, in: DIXON und HORTON, a.a.O. [13] 97–108; G. KEPPEL: Retroactive and proactive inhibition, a.a.O. [13] 172–213; B. J. UNDERWOOD und L. POSTMAN: Extraexperimental sources of interference in forgetting. Psychol. Rev. 67 (1960) 73–95.

 

[17] O. SELZ: Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs (1913); G. E. MÜLLER: Zur Analyse der G.-Tätigkeit und des Vorstellungsverlaufs (1911) Teil I.

 

[18] KOFFKA, a.a.O. [3] 184.

 

[19] K. KOFFKA: Principles of gestalt psychology (New York 1935) 567.

 

[20] B. R. GOMULICKI: The development and present status of the trace theory of memory. Brit. J. Psychol. Monogr. Suppl. No. 29 (1953); W. KÖHLER und H. v. RESTORFF: Analyse von Vorgängen im Spurenfeld. I: H. v. RESTORFF: Über die Wirkung von Bereichsbildungen im Spurenfeld. Psychol. Forsch. 18 (1933) 299–342; II: W. KÖHLER und H. v. RESTORFF: Zur Theorie der Reproduktion. Psychol. Forsch. 21 (1937) 56–112; F. WULF: Über die Veränderung von Vorstellungen (G. und Gestalt). Psychol. Forsch. 1 (1922) 333–373; zur Kritik dieses Ansatzes vgl. die zusammenfassende Darstellung von H. HÖRMANN: Die Bedingungen für das Behalten, Vergessen und Erinnern, in: R. BERGIUS (Hg.): Allg. Psychol. I: Der Aufbau des Erkennens; 2: Lernen und Denken (1964).

 

[21] F. C. BARTLETT: Remembering (Cambridge 1932).

 

[22] K. LEWIN: Behavior and development as a function of the total situation, in: G. CARMICHAEL: Manual of child psychol. (New York 21946); B. ZEIGARNIK: Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen. Psychol. Forsch. 9 (1927) 1–85; vgl. HÖRMANN, a.a.O. [20] 225–283.

 

[23] S. FREUD: Vorles. zur Einf. in die Psychoanal. (1916, 21932).

 

[24] H. H. KENDLER: Coding: associationistic or organizational? J. verbal Learning and verbal Behavior 5 (1965)

 

198–200.

 

[25] G. MANDLER: Organization and memory, in: K. W. SPENCE und J. T. SPENCE (Hg.): The psychol. of learning and motivation (New York 1967) 1, 327–372.

 

[26] E. TULVING: Theoretical issues in free recall, in: DIXON und HORTON, a.a.O. [13] 2–36.

 

[27] G. A. MILLER: The magical number seven, plus or minus two: some limits on our capacity for processing information. Psychol. Rev. 63 (1956) 81–97.

 

[28] Vgl. MANDLER, a.a.O. [25]; G. MANDLER: Association and organization: facts, fancies, and theories, in: DIXON und HORTON, a.a.O. [13] 109–119; G. H. BOWER: Organizational factors in memory. Cogn. Psychol. 1 (1970) 18–46.

 

[29] C. N. COFER: On some factors in the organizational characteristics of free recall. Amer. Psychologist 20 (1965) 261–272; MANDLER, Association and organization ... a.a.O. [28].

 

[30] C. WEINSCHENK: Das unmittelbare G. als selbständige Funktion (1955).

 

[31] D. O. HEBB: Organization of behavior (New York 1949).

 

[32] D. E. BROADBENT: Perception and communication (Oxford 1958).

 

[33] Vgl. zusammenfassend D. A. NORMAN (Hg.): Models of human memory (New York 1970); W. KINTSCH: Learning, memory, and conceptual processes (New York 1970).

 

[34] E. TULVING und S. A. MADIGAN: Memory and verbal learning. Ann. Rev. Psychol. 21 (1970) 437–484.

 

[35] R. C. ATKINSON und R. M. SHIFFRIN: Human memory: a proposed system, in: SPENCE und SPENCE, a.a.O. [25] 90–195.

 

[36] a.a.O. 3.

 

[37] WUNDT, a.a.O. [8] 305.

 

[38] J. P. GUILFORD: The nature of human intelligence (New York 1967); K. PAWLIK: Dimensionen des Verhaltens (1968); L. F. KATZENBERGER: Dimensionen des G. Z. exp. angew. Psychol. 12 (1965) 451–492.

 

[39] WULF, a.a.O. [20]; P. S. HOLZMAN und R. W. GARDNER: Levelling and repression. J. abnorm. soc. Psychol. 59 (1959) 151–155; Levelling – sharpening and memory organization a.a.O. 61 (1960) 176–180; R. W. GARDNER, P. S. HOLZMAN, G. S. KLEIN, H. B. LINTON und D. P. SPENCE: Cognitive control: a study of individual consistencies in cognitive behavior. Psychol. Issues 1 (1959) Nr. 4.

 

[40] D. RICHTER (Hg.): Aspects of learning and memory (New York 1966); A. H. PRIBRAM und D. C. BROADBENT (Hg.): Biol. of memory (London 1970); KIMBLE, a.a.O. [11].

 

[41] E. R. JOHN: Mechanisms of memory (New York 1967) 2f.

 

[42] Vgl. z.B. E. R. HILGARD und G. H. BOWER: Theorien des Lernens 2 (1971); PRIBRAM und BROADBENT, a.a.O. [40].

 

Literaturhinweise. H. EBBINGHAUS s. Anm. [12]. – F. C. BARTLETT s. Anm. [21]. – G. KATONA: Organizing and memorizing (New York 1940). – H. HÖRMANN s. Anm. [20]. – W. W. ROZEBOOM s. Anm. [14]. – D. A. NORMAN: Memory and attention (New York 1969); s. Anm. [32]. – E. R. HILGARD und G. H. BOWER s. Anm. [42]. – M. J. A. HOWE: Introduction to human memory (New York 1970). – A. H. PRIBRAM und D. E. BROADBENT s. Anm. [40].

 

F. E. WEINERT

 

Jochahim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt 1973/4, S. 35-41.

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