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Vergänglichkeit

Sur l´eau 2008. 5. 30. 23:30

Vergänglichkeit; Vergehen. Die Präfixbildung ‹vergehen› meint ursprünglich eine Verstärkung von ‹gehen› [1]. Dem substantivisch gebrauchten ‹Vergehen› entspricht nhd. der ‹Vergang›, was sowohl den Zustand bedeutet, «worin etwas zu grunde geht» [2], wie das Zugrundegegangene selbst als das Vergangene. Vergänglich ist dann, «was vergang, untergang in sich schlieszt» [3], während ‹Vergänglichkeit› [‹V.›] die «eigenschaft des vergehens» [4], das Vergänglichsein von etwas bezeichnet. Im Griechischen und Lateinischen lassen sich dem damit umschriebenen Wortfeld ‹vergehen›, ‹vergänglich›, ‹V.› nur schwer eindeutige Synonyme zuordnen. Üblich sind φθορ und φθαρτς, ‹corruptio› und ‹corruptibilis› für ‹Vergehen› und ‹vergänglich› sowie ‹corruptibilitas› und ‹fragilitas› für ‹V.›. Φθορ heißt allerdings, wie ‹corruptio›, nicht nur das Vergehen, sondern jede Form von Vernichtung ð (s.d.), Zerstörung, Verderben, Verfälschung, Schaden oder Beschädigung. So tritt der Begriff etwa in der ‹Nikomachischen Ethik› an vier verschiedenen Stellen in vier verschiedenen Verwendungen auf: Φθορ ist die Zerstörung der Tugenden durch Übermaß, der Tod, der Verlust des Besitzstands ( τς οσας φθορ), der Verfall einer Staatsform [5]. Enger und einschlägig im Kontext der antiken Kosmologie ist die Opposition  φθαρτς zu ἀΐδιος.

    1. Antike. – Die Frage nach Entstehen und Vergehen gehört zu den ältesten Traditionsbeständen der europäischen Philosophie. ANAXIMANDER, in einer bei THEOPHRAST überlieferten Formulierung, beschreibt das Vergehen als «Buße» des Entstehens und den Wechsel von Entstehen und Vergehen als das Grundgesetz des Kosmos «gemäß der Ordnung der Zeit» [7], denn woraus den Dingen das Entstehen (γνεσις) sei, dahin erfolge auch ihr Vergehen (φθορ). «Dinge» sind hier die aus dem Unbegrenzten derivierten Gegensätze des Warmen und Kalten, Trockenen und Feuchten; jeder singuläre Entstehensprozeß bewirkt das Übergewicht einer dieser Qualitäten, das der entsprechende Prozeß des Vergehens ausgleicht. Wie der ‘Spruch des Anaximanderʼ ursprünglich lautete, ist umstritten, Theophrast zitiert ihn im Jargon der Peripatetiker; peripatetisch sind wohl auch die Termini γνεσις und φθορ: Im Hintergrundsteht die Aristotelische These, die «ersten Philosophen» hätten Entstehen und Vergehen auf ein (materielles) Substrat zurückgeführt, aus dem alles hervor- und in das alles zugrunde gehe [8]. Das doxographische Problem ist deshalb bedeutsam, weil das Substrat-Modell u.a. die Konsequenz hat, Entstehen und Vergehen auf Zustandsveränderungen eines an ihm selbst beharrli chen Substrats zu reduzieren, das weder entsteht noch vergeht und in diesem Sinne unvergänglich ist. Aus aristotelischer Sicht gelangen die ersten Philosophen damit contre cœur zu einem Monismus, der Entstehen und Vergehen leugnet. Offen monistisch ist dagegen die Position des PARMENIDES, der die Nichtexistenz von Entstehen und Vergehen (λλυσθαι) nicht nur behauptet, sondern mit ‘logischenʼ Mitteln beweist. Unentstandenheit, Unvergänglichkeit, neben Ganzheit, Einheit, Unteilbarkeit und Vollkommenheit, sind für Parmenides in dem Maße «Merkmale» des wahren Seins [9], wie Entstehen und Vergehen Nichtsein voraussetzen würden. Im selben Zug schließt der «Weg der Wahrheit» die temporale Bestimmung des Seins aus [10] und diskreditiert damit die Geltung der Zeit als kosmologisches Ordnungsprinzip. Insofern besitzt die im zweiten Teil des Lehrgedichts entwickelte Kosmologie für Parmenides selbst nur hypothetischen Charakter; ihr Gegenstand ist der Bereich des Entstandenen und Vergänglichen, der sich zu dem, was (eigentlich) ist, verhält wie Meinung zu Gewißheit. Die Zäsur von Sein und Erscheinung, die mit dieser Zäsur verbundene Unterscheidung zwischen intelligibler und sinnlicher, ewiger und vergänglicher Welt spielen eine Schlüsselrolle in der Geschichte der Metaphysik; bereits PLATONS Ideenbegriff und ARISTOTELES' Begriff der substantiel len Form erweisen sich in dieser Hinsicht als Fußnoten zu PARMENIDES: Platonische Ideen sind ebenso unentstanden und unvergänglich wie Aristotelische Formen [11]; in beiden Konzeptionen bildet daher die Vermittlung zwischen dem unvergänglich Seienden und dem Werdenden das zentrale Problem. Sie wird geleistet durch die Rehabilitierung der Zeit als Dimension des Vergänglichen.

    Als «Ursache des Vergehens» (φθορς ... ατιος) [12] bezeichnet ARISTOTELES die Zeit in seiner ‹Physik-Vorlesung›. Obwohl diese Bemerkung an exponierter Stelle innerhalb der Zeitabhandlung steht, ist sie in der Wirkungsgeschichte der Aristotelischen Zeitphilosophie kaum berücksichtigt worden. Aristoteles lehrt sonst von der Zeit, daß sie immer sei wie die Bewegung der Natur auch [13]; darin stimmt er mit dem überlieferten Weltbild der griechischen Antike überein, demzufolge der Kosmos ewig ist und die Zeit immerwährend. PLATON bringt diese Zuordnung in der Formel zum Ausdruck, die Zeit sei ein Bild des Aion ð (s.d.), der ununterbrochenen Lebensdauer – später mit ‹Ewigkeit› ð (s.d.) übersetzt –, und er meint mit ‹Bild› gerade keine defiziente, vielmehr die «angemessene Erscheinungsweise» der Ewigkeit [14]. Schon darin liegt eine Aufwertung des ontologischen Status der Zeit [15], die ARISTOTELES noch einmal verschärft. Die Zeit, von der Aristo teles als Ursache des Vergehens spricht, ist die kosmische Zeit unter dem biologischen bzw. existentiellen Gesichtspunkt der V. [16]. Beide, PLATON und ARISTOTELES, lösen also die Antinomie von Zeit und Ewigkeit auf, wie sie aus der parmenideischen Entgegensetzung von Sein und Nichtsein folgt. Zeit repräsentiert nicht länger eine Weise des Nichtseins, sondern bezeichnet den Übergang vom noch nicht zum nicht mehr Vorliegenden, das mit gegenwärtigen Phänomenen in einem kontinuierlichen Zusammenhang steht [17]. Auch hier ist es Aristoteles, dessen Analyse der Zeit konsequent die Unhintergehbarkeit und Dominanz der V. ins Auge faßt. Denn die Aristotelische Zeittheorie führt zum Resultat, daß es Gegenwart ð (s.d.), und im Maßstab der Gegenwart: Dauer ð (s.d.), strenggenommen nicht gibt. Die Zeiterfahrung kennt nach Aristoteles nur ein früheres (πρτερον) und späteres (στερον), während die Mitte zwischen beiden vom zeitmessenden Subjekt projiziert wird [18]. Aristoteles betont, daß diese Mitte, das «Jetzt» ð (s.d.), kein Teil der Zeit ist [19], und bekräftigt damit, daß die Zeit sich der Fixierbarkeit entzieht und das Regime der Zeit auf der V. beruht. Retrospektiv kann die Aristotelische Zeitabhandlung als Bruch mit der antiken Überzeugung von der Konvergenz zwischen ewigem Sein und kosmischer Zeit bewertet werden, ein Bruch, der die an Ari stoteles anschließende Geschichte der philosophischen Zeittheorien maßgeblich bestimmt hat, auch wenn er von Aristoteles selbst in der ‹Physik› nicht ausdrücklich thematisiert wird.

    Im zwölften Buch der ‹Metaphysik› unterscheidet Aristoteles drei Klassen von Substanzen: sinnlich wahrnehmbare Substanzen als a) vergängliche oder b) ewige und c) die unbewegte(n) Substanz(en) [20]. Die vergänglichen Substanzen, die Dinge im sublunaren Bereich, sind vergänglich nicht nur im spezifischen Sinne der φθορ, die Aristoteles, im Verbund mit γνεσις, von den Bewegungsformen der φορ, αξησις und λλοωσις abgrenzt [21]. Die vergänglichen Substanzen sind vergänglich, sofern sie überhaupt Prozessen der Veränderung unterliegen, die zwar ihrem Wesen entsprechen, deren zeitliche Struktur aber keine Garantie für die permanente Erhaltung der Natur bietet [22]. Die Funktion des Prinzips, das der Bewegung Ewigkeit verleiht, erfüllt der erste Beweger und die durch ihn bewirkte Unaufhörlichkeit der Kreisbewegung der himmlischen Sphären [23]. Erst die Metaphysik also entwickelt die Gründe für die Plausibilität des Gedankens einer ungebrochenen Dauerhaftigkeit der Welt – die aus der Physik allein nicht hinreichend zu gewinnen wäre.

    2. Mittelalter und Renaissance. – In der Tradition der christlich beeinflußten Philosophie hat die dogma ßerhalb der zeitlichen Realität. Er steht in der ontologischen Hierarchie zwischen der vergänglichen Welt und dem einzigen Wesen, dem Sein im exklusiven Sinne zukommt, nämlich Gott. Gott ist der Garant für eine unvergängliche Existenz jenseits der Zeit. Die in Gott verankerte Transzendenz der Zeit hat das christliche Zeitbewußtsein nachhaltig geprägt und kulminiert in der christlichen Mystik. MEISTER ECKHART beschreibt den Aufstieg der Seele zur Einheit mit Gott als Austritt aus den zeitlichen Bedingungen des Daseins [29]. Eckhart übersetzt die Augustinische Erfahrung des Entzugs der Zeit in das Ethos der mystischen Einheit von Selbst- und Gotteserfahrung. Bezeichnend für die mystischen Prämissen der V. und Hinfälligkeit des geschaffenen Seins ist, daß der Mensch nur im Unwesentlichen, in seinem irdischen leiblichen Dasein, von der V. betroffen ist. So verliert die Klage über die V. der menschlichen Existenz, ein Grundmotiv der antiken Dichtung, aber auch der Weisheitsliteratur der hebräischen Bibel [30], ihre Spitze. Die auf die Existenz der Welt selbst bezogene Frage jedoch, warum überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts sei, wird dadurch verschärft, und in dieser Verschärfung diskutieren sie NIKOLAUS VON KUES und G. W. LEIBNIZ: «Pourquoy il y a plustôt quelque chose que rien?» [31]. Die Schöpfung wird zur Theodizee-Frage, die erst in der Epoche der Re naissance eine neue Antwort findet, derzufolge die Befristung des Lebens und die unhintergehbare V. menschlicher Existenz nicht ein Defizit, sondern eine Chance bedeutet. An die Stelle der Verantwortlichkeit Gottes für die Übel der Welt tritt die Selbstverantwortlichkeit des Menschen für sein Schicksal. Deutlich ausgesprochen ist diese Konsequenz bei G. F. PICO della MIRANDOLA, der das Handeln des Menschen der uneingeschränkten Autonomie seines Willens überantwortet und so den Menschen zum souveränen Ökonomen seiner Lebenszeit macht [32]. Dabei wird allerdings die Welt, abweichend vom christlichen Dogma, tendenziell als ewig gedacht – eine Konsequenz, mit der sich die Renaissance zunehmend der Grundauffassung und Grundstimmung ihres epochalen Vorbilds, der griechischen Antike, annähert. Eine dramatische Forcierung erhält diese Tendenz durch P. POMPONAZZIS umstrittene Auslegung der Seelenlehre des ARISTOTELES [33], nach der Aristoteles die Untrennbarkeit von Körper und Seele auch für den vernünftigen Seelenteil behauptet und so die Sterblichkeit der Seele vertritt. POMPONAZZI zählt zu den radikalen Humanisten, deren Anthropologie zugleich ein Plädoyer für die Akzeptanz der Ultimativität des Todes darstellt [34].

    3. Neuzeit. – Die ‘Wende zum Subjektʼ in der neuzeitlichen Philosophie löst den Begriff der V. voll ständig vom theologisch besetzten Gegenbegriff der Unvergänglichkeit: Entscheidend ist nicht länger der Kontrast zur Ewigkeit, sondern der Kontext der Selbsterhaltung ð (s.d.) [35]. Im Unterschied zur Tradition verweist dabei auch das Prinzip der Selbsterhaltung nicht mehr auf die teleologische Struktur eines Strebens, das seine Erfüllung in der Ordnung der Natur oder göttlicher Zwecksetzung findet. Selbsterhaltung bedeutet buchstäblich die Erhaltung des Selbst durch es selbst – unter Bedingungen, die nicht auf die Erhaltung des Selbst angelegt sind [36]. Aus dieser Ambivalenz ergibt sich der seinerseits ambivalente Anspruch der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie, im Begriff des Subjekts Endlichkeit und Spontaneität zu verbinden. Einschlägig dafür ist das von J. G. FICHTE und F. W. J. SCHELLING konzipierte Modell einer «Geschichte des Selbstbewußtseins» [37], in deren Verlauf sich das endliche als absolutes Subjekt etabliert, indem die Reflexion jede Gestalt der Endlichkeit auflöst und als vergangene Epoche in sich zurücknimmt. Die Endlichkeit erscheint hier ebensosehr als notwendiges wie als transitorisches und in diesem Sinne selbst als ein vergängliches Moment von Subjektivität. Die Wendung zur Geschichte des Selbstbewußtseins bedeutet für Fichte und Schelling zugleich die Überwindung dualistischer Optionen in I. KANTS Transzendentalphilo sophie; mit derselben Stoßrichtung überbietet G. W. F. HEGEL noch einmal den frühidealistischen Ansatz beim Selbstbewußtsein. Die Geschichte wird bei Hegel zur Selbsterzeugung des absoluten Geistes, die Endlichkeit nur als immer schon aufgehobene zuläßt. In einer berühmten Passage aus der ‹Wissenschaft der Logik› kritisiert Hegel, paradigmatisch an den Kantischen Termini der Schranke und des Sollens, den immanenten Widerspruch der endlichen Reflexion, das Vergängliche zugleich als Absolutes zu setzen, statt in der Affirmation des Vergänglichen als Vergängliches das Vergehen der V. als interne Bestimmung des Vergänglichen selbst anzuerkennen [38].

    Gegen Hegel erneuern im 19. Jh. S. KIERKEGAARD und F. NIETZSCHE den Bruch mit der Metaphysik der Unvergänglichkeit. Unter faktischer Anknüpfung an die Zeitauffassung Augustins überträgt KIERKEGAARD die Erfahrung der V. auf das menschliche Bewußtsein: Die Kunst des Lebens besteht darin, angesichts der Einsicht in die V. zeitlicher Existenz, angesichts des unabweisbaren Bewußtseins menschlicher Endlichkeit nicht zu verzweifeln. Dem ‘Selbstʼ wird dabei nicht einfach Unvergänglichkeit oder ewiges Leben jenseits seiner zeitlichen Existenz verheißen – viel zu sehr geht Kierkegaard von der dialektischen Interdependenz zwischen Seele und Leib aus [39]. Der Mensch kann die ihn ständig be drohende Verzweiflung ð (s.d.) nur überwinden durch einen «Sprung» ð (s.d.), den Sprung aus der Ausweglosigkeit der Endlichkeit in den Glauben an einen Gott, dessen Vermenschlichung paradoxerweise dem zeitlich beschränkten Leben höchste Sinnerfüllung vermittelt. Wie in der Mystik sind es auch bei Kierkegaard Momente eigentümlicher ‘Verzückungʼ, die innerhalb des Zeitverlaufs die Erlösung von der Enge der Zeit erscheinen lassen. Diese ‘Augenblickeʼ – Kierkegaard nennt sie «Atome der Ewigkeit» [40] – sind zwar nicht Teile der Zeit, aber sie sind auch nicht jenseits der Zeit.

    NIETZSCHE profiliert die Subjektivität als Selbstschöpfung und als ein «Schaffen», das seine eigene Produktivität gerade in der V. erfährt. Im Sinne eines radikalen Heraklitismus sieht er in Dauer und Unvergänglichkeit «reine Fiktionen»: «Wenn Alles fließt», heißt es in einer nachgelassenen Notiz unter dem Titel ‹Werth der V.›, «so ist die V. eine Qualität (die ‘Wahrheitʼ) und die Dauer und Unvergänglichkeit bloß ein Schein» [41]. «Böse ... und menschenfeindlich» nennt der ‹Zarathustra›, «all diess Lehren vom Einen und Vollen und Unbewegten und Satten und Unvergänglichen! Alles Unvergängliche – das ist nur ein Gleichniss! Und die Dichter [gemeint ist GOETHE] lügen zuviel» [42]. – Wie selbstverständlich der Gedanke vom Wert der V. seit Nietzsche gewor den ist, zeigt exemplarisch S. FREUDS kurzer Essay ‹V.›. Freud begreift darin die Hinfälligkeit des Schönen als eine «Wertsteigerung», weil sie die ästhetische Erfahrung intensiviert und ihrem Gegenstand den Rang des Einmaligen, Kostbaren verleiht: «Der Vergänglichkeitswert ist ein Seltenheitswert in der Zeit» [43]. Das Rätsel liegt für Freud deshalb nicht im Phänomen der V., sondern in der Trauer ð (s.d.), die der Verlust vergänglicher Güter auslöst, darin, «daß sich die Libido» auch im nachhinein «an ihre Objekte klammert» [44].

    Für die an Nietzsche und Kierkegaard anschließende Existenzphilosophie konkretisiert sich die V. im Scheitern und in der Unüberholbarkeit des Todes. Während K. JASPERS aus der in den «Grenzsituationen» von Tod, Leiden, Kampf, Zufall und Schuld erfahrenen Unverfügbarkeit des Daseins den Appell an die Freiheit und Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen ableitet [45], identifiziert M. HEIDEGGER die Zeitlichkeit selbst als den «ontologischen Sinn der Sorge» [46]. Zeitlichkeit äußert sich in der Ekstatik unserer Existenz. Diese Ekstatik bedeutet nicht nur, daß unser Dasein in seine zeitliche Dynamik ‘herausstehtʼ; Ekstatik bedeutet, daß Anfang und Ende zu einer Einheit verbunden werden müssen, wenn es zu einer gelingenden («eigentlichen») Existenz kommen soll. Den Akzent setzt Heidegger dabei auf die Zu künftigkeit; von ihr aus läßt sich die Einheit der Zeitekstasen gewinnen [47]. Den absoluten Horizont für das Dasein bildet nach Heidegger der Tod ð (s.d.), der als ultimative Möglichkeit des Daseins alle Existenzmöglichkeiten qualifiziert, die das Dasein verwirklichen kann. Damit ist der Tod nicht nur ein ausgezeichnetes Moment unserer Existenz [48], als ultimative Möglichkeit des Daseins ist er gleichsam existentiell integriert, so daß die V. das Dasein nicht stigmatisiert wie bei Augustin. Nicht in der V. besteht der Sinn des Daseins, sondern im «entschlossenen» Ergreifen der Endlichkeit. Mit der ‹Kehre› verlagert sich die existentiale Bestimmung der Zeitlichkeit auf das Sein selbst, dessen «Wahrheit» Heidegger nun als geschichtsstiftendes Geschehen von Entbergung und Verbergung denkt. Besondere Bedeutung kommt dabei der Kunst zu, deren Werke, wie der griechische Tempel, im Streit von Welt und Erde die Erschließung der Wahrheit als eine jeweils vergängliche ausweisen [49] – ein Gedanke, der dem, was TH. W. ADORNO den «Prozeßcharakter der Kunstwerke» nennt [50], erstaunlich nahe ist.

    Kompromißlos hat H. BLUMENBERG in ‹Lebenszeit und Weltzeit› die V. als ständige Grunderfahrung und als unhintergehbar analysiert und zugleich kritisch gegen die klassische Geschichtsphilosophie gewendet. Für Blumenberg ist die Erfahrung  der Divergenz zwischen Lebenszeit und Weltzeit die Quelle der Religion. Lebenszeit ist die mehr oder weniger verfügbare Zeit unseres Lebensvollzugs und unserer Lebensplanung [51]. Dagegen grenzt Blumenberg die als anonym erlebte Weltzeit als die kosmische Zeit ab, in der sich Leben und Tod abspielen, die selbst aber nicht vergeht. Die Erfahrung der Inkompatibilität der beiden Zeiten wird als Leid bewußt, von dem die Religion Erlösung verheißt. Blumenbergs kulturpsychologische Erklärung der Religionsentstehung und die damit assoziierte Kritik an der Kompensationskompetenz der Religion richtet sich nicht zuletzt gegen das christliche Dogma der Auferstehung als Überwindung der V.

 

    Anmerkungen.

 

[1] Art. ‹Vergehen›. GRIMM 12/I (1956) 395–403, hier: 396.

 

[2] Art. ‹Vergang›, a.O. 373f.

 

[3] Art. ‹Vergänglich›, a.O. 374f.

 

[4] Art. ‹V.›, a.O. 375.

 

[5] ARISTOTELES: Eth. Nic. II, 2, 1104 a 28; III, 9, 1115 b 5; IV, 1, 1120 a 2; VIII, 12, 1160 a 32.

 

[6] Vgl. Art. ð ‹Werden/Vergehen›.

 

[7] ANAXIMANDER: VS 12, B 1; zur Abgrenzung des Zitats vgl. G. S. KIRK/J. E. RAVEN/M. SCHOFIELD: Die vorso krat. Philosophen (1994) 129.

 

[8] Vgl. ARISTOTELES: Met. I, 3, 983 b 6ff.; Phys. III, 4.

 

[9] PARMENIDES: VS 28, B 8, 2; der Beweis (8, 6ff.) wird explizit nur für das Entstehen geführt, gilt aber analog auch für das Vergehen.

 

[10] B 8, 5f.

 

[11] Vgl. z.B. PLATON: Phaedo 78 bff.; ARISTOTELES: Met. VII, 8, 1033 b 5f.; VIII, 3, 1043 b 14f.; Unvergänglichkeit kommt nach Aristoteles allerdings nur den reinen Formen zu, vgl. die Belege bei W. D. ROSS: Aristotle's Met. (Oxford 1924) 2, 188.

 

[12] ARISTOTELES: Phys. IV, 12, 221 b 2; 13, 222 b 19.

 

[13] Met. XII, 6, 1071 b 6–9.

 

[14] PLATON: Tim. 37 d; vgl. A. BÄCHLI/A. GRAESER: Grundbegriffe der ant. Philos. (2000) 79–81.

 

[15] ARISTOTELES: Met. XII, 6, 1071 b 6–9.

 

[16] Vgl. E. RUDOLPH: Zeit und Ewigkeit bei Platon und Aristoteles, in: E. RUDOLPH (Hg.): Zeit, Bewegung, Handlung (1988) 109–128.

 

[17] ARISTOTELES: Phys. IV, 12, 221 a 30–32; 13, 222 b 25: π το χρνου φθορν.

 

[18] Phys. IV, 11, 219 a 10–14.

 

[19] Phys. 218 a 6; 219 a 23–26.

 

[20] Met. XII, 2, 1069 a 31ff.

 

[21] Phys. III, 1; V, 1; De gen. et corr. I, 6–10.

 

[22] Met. XII, 6.

 

[23] Met. 1071 b 19ff.

 

[24] Vgl. Art. ð ‹Vanitas mundi›.

 

[25] Vgl. K. FLASCH: Was ist Zeit? (1993).

 

[26] AUGUSTINUS: Conf. IV, 10, 15.

 

[27] a.O. XI, 14, 17.

 

[28] a.O. 20, 26.

 

[29] MEISTER ECKHART: Predigt 23: Jêsus hiez sine jüngern ûfgân ... Deutsche Werke 1 (1958) 405, 1ff.

 

[30] Zahlreiche Belege bei W. NESTLE: Die Überwindung des Leids in der Antike, in: Griech. Weltanschauung in ihrer Bedeutung für die Gegenwart (1946) 414–440; G. VON RAD: Weisheit in Israel (31985) 245ff.

 

[31] NIKOLAUS VON KUES: Trialogus de possest 25, 15f. Op. omn. 11/2, hg. R. STEIGER (1973) 31; G. W. LEIBNIZ: Princ. de la nat. et de la grâce, fondés en raison 7 [1714]. Die philos. Schr., hg. C. I. GERHARDT 6 (1885, ND 1965) 602.

 

[32] G. F. PICO della MIRANDOLA: Oratio de hominis dignitate (1486), hg. A. BUCK (1990) 4–8.

 

[33] Vgl. ARISTOTELES: De an. III, 5.

 

[34] Vgl. P. POMPONAZZI: De immortalitate animae IX (1516), hg. B. MOJSISCH (1990) 92; vgl. Art. ð ‹Unsterblichkeit II.›.

 

[35] Vgl. H. EBELING (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung (1976); zur neuzeitl. Wiederaufnahme des stoischen Motivs der Selbsterhaltung: W. DILTHEY: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation [1894–1904]. Ges. Schr. 2 (1914, 101977).

 

[36] Vgl. D. HENRICH: Die Grundstruktur der mod. Philos., und: Selbsterhaltung und Geschichtlichkeit, in: EBELING (Hg.), a.O. 97–143. 303–313.

 

[37] J. G. FICHTE: Grundlage der ges. Wiss.lehre (1794). Akad.-A. I/2 (1965) 365; F. W. J. SCHELLING: Abh. zur Erläut. des Idealismus der Wiss.lehre (1796/97). Sämmtl. Werke I/1, hg. K. F. A. SCHELLING (1856) 382.

 

[38] G. W. F. HEGEL: Wiss. der Logik I, 1 (1832). Akad.-A. 21 (1985) 117f.; bei ARISTOTELES: Met. VIII, 3, 1043 b 14, findet sich die umgekehrte Formulierung des Vergänglichseins ohne Vergehen.

 

[39] S. KIERKEGAARD: Die Krankheit zum Tode (1849). Ges. Werke, hg. E. HIRSCH 24/25 (1957) 21; Der Begriff Angst (1844), a.O. 11/12 (1958) 141ff.

 

[40] Der Begriff Angst, a.O. 90.

 

[41] F. NIETZSCHE: Nachgel. Frg., Nov. 1887–März 1888, 11[98] (350). Krit. Ges.ausg. 8/2 (1970) 288.

 

[42] Also sprach Zarathustra II, Auf den glückl. Inseln (1883), a.O. 6/1 (1968) 106; vgl. J. W. GOETHE: Faust II, 5 (1808) v. 12104f.: «Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis».

 

[43] S. FREUD: V. [1915]. Ges. Werke, hg. A. FREUD u.a. (London 1940–87) 10, 359.

 

[44] a.O. 360.

 

[45] K. JASPERS: Psychol. der Weltanschauungen (1919, 81994) 229ff.; Philosophie 2 (1932, 51994) 201ff.

 

[46] M. HEIDEGGER: Sein und Zeit § 65 (1927).

 

[47] a.O.

 

[48] § 53.

 

[49] Vgl. Der Ursprung des Kunstwerks (1935/36), in: Holzwege (1950, 61980) 40f. 47; vgl. hierzu auch: Art. ð ‹Streit I.›. Hist. Wb. Philos. 10 (1998) 297–301; zur Rolle der V. in der Kunst vgl. H.-G. GADAMER: V. Ges. Werke 9 (1993) 171–179.

 

[50] TH. W. ADORNO: Ästhet. Theorie (1970). Ges. Werke, hg. R. TIEDEMANN (1970–86) 7, 264ff.

 

[51] H. BLUMENBERG: Lebenszeit und Weltzeit (1986) 71ff.

 

D. KAEGI/E. RUDOLPH

 

 

J. Ritter / K. Gründer / G. Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Darmstadt 2001, S. 658-664.

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