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Kulturphilosophie (3)

Sur l´eau 2008. 6. 2. 05:30
      c) Materiale K.ph. – α) Kultur als Gegenstand. – Die Wissenschaften von der K. sind ein Einzelgebiet der K. Dieser relativ schmale Bereich der «wissenschaftlichen K.» ist Gegenstand der formalen K.ph. Die materiale K.ph. hat «mehr» im Blick: Ihr Gegenstand ist die «K. im Ganzen». Er umfaßt alles, «was es an menschlich Erschaffenem auf der Erde gibt» [1], also nicht weniger als die «geschichtlich-gesellschaftliche Welt» schlechthin (W. DILTHEY).

    ‹Zivilisation› ist nur im Deutschen ein Gegenwort zu ‹K.› geworden. KANT bediente sich wohl als erster dieser Antithese. «Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft cultivirt. Wir sind civilisirt bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns schon für moralisirt zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Cultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht die bloße Civilisirung aus» [2]. W. VON HUMBOLDT verwendet diese Entgegensetzung im Sinne von «äußerlich» und «innerlich». Zivilisation und K. seien Durchgangsstufen zum Gipfel des persönlichen Daseins. Erreicht werde dieser mit der Erzeugung einer Welt in der Individualität durch Bildung [3]. Wenngleich W. v. Humboldt aus dem Wort ‹K.› nicht «Bildung» heraushört, so hat ihm ‹K.› doch einen zu hohen Klang, als daß er die Werke des «homo faber» schon als zur K. gehörig betrachtet hätte. O. SPENGLER hielt an der Antithese ‹Zivilisation – K.› insofern fest, als er mit ‹Zivilisation› das unausweichliche Auflösungsstadium von K. bezeichnete. Der zivilisierte Mensch hat keine künftige K. mehr; denn Zivilisationen «sind ein Abschluß; sie folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der Entwicklung als die Starr heit ... Sie sind ein Ende [der K.], unwiderruflich, aber sie sind mit innerster Notwendigkeit immer wieder erreicht worden» [4]. Die vornehmlich aus Motiven dogmatischer K.-Kritik verwendete Polarisierung von Zivilisation und K. setzte sich nicht durch. Die deutsche Eigentümlichkeit wurde von den englischen und französischen Sprach- und Denkgewohnheiten nicht akzeptiert. ‹Culture› und ‹civilization› sind im Englischen synonym. Eine Unterscheidung hält T. S. ELIOT für «künstlich und daher überflüssig» [5], ‹Civilization› bzw. ‹culture› meint ein gutes soziales Verhalten. Das Gegenwort ist ‹barbarity›. Das französische ‹culture› bleibt an das lateinische ‹cultura› angelehnt. ‹Civilisation› bezeichnet vornehmlich ein alle Lebensbereiche umspannendes Ideal [6], auch die des mythischen Zivilisationsheros Herkules und des Genies der prometheischen Tat. Eine andere sach- und gegenstandsnähere Unterscheidung ist die von «niederer» oder Primitiv-K. und Hoch-K. Sie wurde der materialen K.ph. bei ihrer Gegenstandsfindung dienlicher. An einen Wertgegensatz in dem Sinne, daß die eine «bloß» materielle und die andere eine schöpferisch-geistige wäre, ist dabei nicht zu denken. Die eine wie die andere ist K.

    Charakteristisch für Hoch-K. ist erstens die Differenzierung eines keimhaft virulenten Lebensstils und eines ihm korrespondierenden Weltbildes zu einem reichen Geflecht von relativ autonomen und somit unterscheidbaren K.-«Zweigen» (= Sphären) wie Wirtschaft, Recht, Staat, Religion, Erziehung, Kunst, Wissenschaft usw., nicht zuletzt einer durchgeformten Literatur. Das zweite Charakteristikum ist, daß die K.-Zweige dank ihren «bündigen» und «geprägten Formen» auch wieder auf das Leben zurückwirken. Das Faktum der soziativen Rückwirkung stellt E. ROTHACKER unter einem dreifachen Gesichtspunkt heraus. Geprägte Formen sind einmal gemeinschaftsformend, sie wirken zum andern aber auch verjüngend auf das Leben dieser Gemeinschaften selbst [7]. Zum dritten: Die den einzelnen K.-Bereichen angehörenden geprägten Formen werden nicht nur im Abstand ästhetisch erlebt; sie werden vielmehr mitsamt ihrem gegenständlichen Gehalt gelebt, getätigt [8]. «Wie sich das tiefste Leben großer K. in ewigen Kreisläufen bewegt von Formen, die aus dem Leben aufsteigen und die als Formen wieder zu Formen des Lebens selber werden wollen, indem sie auf dasselbe zurückwirken, um von da erneut Anstöße zu empfangen und erneut das Leben zu gestalten» [9], illustriert Rothackers kulturphilosophisches Schrifttum mit plastischen Beispielen. Sie verdeutlichen sowohl die für Hoch-K. spezifische Vielfalt von K.-Systemen, in deren Werken und Formen sich ein Lebensstil spiegelt, als auch die Rückwirkung dieser Werke und Formen.

          Die «niedere» oder Primitiv-K. ist vom Begriff der «K. im Ganzen» umfangen. Auch sie ist eine von Menschen selbsterschaffene Welt. Auch in ihr sind Rechts-, Wirtschafts-, Religions-, Kunstformen möglich. Nur, daß diese meist miteinander verzahnt, verflochten und nicht als eigene Bereiche anzusehen sind. Ein K.-Gebiet scheint aber in ihnen zu dominieren: das des zivilisatorischen Machverhaltens auf «hand»werklicher Ebene. Dürfen als «Selbstbeweise» des Geistes u.a. auch Neuschöpfungen auf hand-werklicher Ebene gelten, dann teilt die «niedere» oder Primitiv-K. die «Geistigkeit» mit der Hoch-K. Daß der «primitive Mensch» und die «Naturvölker», welche «abseits der Zentren pulsierender Hoch-K.-Geschichte ‹ältere› Zustände der Menschheit konservieren» [10], schöpferisch sind, gehört zu den prähistorischen, ethnologischen und kulturanthropologischen Grunderkenntnissen. Ein unangemessenes Verständnis des Machverhaltens, das ihm Kultiviertheit abspricht, beruht auf der heimlichen Voraussetzung eines bestimmten Naturbegriffs.

    Meint man, es sei die Natur, welche den Menschen in und bei der Herstellung und dem Gebrauch von lebensnotwendigen Geräten (= Zeug bzw. Um-zu-Dingen) so weit «belehre», daß er alles wie «von selbst» könne, dann wird man konsequenterweise eher von einer «Nachahmung der Natur» als von schöpferi schen Einfällen des «tool making animal» (B. FRANKLIN) sprechen. Auf keinen Fall davon, daß etwas noch nie Dagewesenes, Neuartiges und völlig Naturfremdes seitens des Menschen entdeckt oder erfunden worden sei, etwas, das der Natur auch vollkommen gleichgültig ist. Exemplarische Muster für Abwertungen des handwerklich-zivilisierenden Verhaltens zu bloßen Naturnachahmungen bzw. Organprojektionen bieten G. KLEMENS ‹Allgemeine K.-Geschichte› (1854) und E. KAPPS ‹Grundlinien einer Philosophie der Technik› (1877). Noch M. SCHELERS Auffassung ist es, daß nicht der Geist, sondern die «organisch gebundene praktische Intelligenz» [11], an der W. Köhlers Schimpansen auch partizipierten, technisch-zivilisatorische Um-zu- Dinge hervorbrächte und deren Gebrauch bewerkstelligte. Diese Werkzeugtheorie könnte sich sogar auf ARISTOTELES berufen. Von ihm her war die «neutrale» Zeuglehre auf nicht-geistiger Grundlage zu entfalten. Nur, daß Aristoteles aus antik-religiöser Hochachtung vor der Natur «dem werksetzenden Menschen keine wesentliche Funktion» [12] zutraute. Zwar wird eine Fülle von Werkzeugen zum Leben benötigt [13]. Aber zur Beschaffung derselben bedarf der Mensch keines eigenschöpferischen Werkens. Aus dem griechischen Credo an die anfang- und endlos und somit immer schon waltende selbstursprüngliche Natur läßt Aristoteles sie für die Um-zu-Dinge des Menschen sorgen, τέχνη als Inbegriff aller Fertigkeiten und φύσις sind gleichsinnige Konstitutionsprinzipien: «Die immanenten Wesenszüge der einen Sphäre können für die der anderen eingesetzt werden» [14]. Darum das Diktum: «ἡ τέχνη μιμεῖται τὴν φύσιν» [15]. τεχνάζειν ist μίμησις. Jedwede τέχνη besteht teils in der Vollendung dessen, was die Natur nicht zu Ende zu bewerkstelligen vermag, und teils in der Nachahmung des von Natur, d.h. «von selbst», Vorgegebenen [16].

    Erst mit der Auffassung der Natur als Kreatur eines übernatürlichen Schöpfergottes, der als ausgesprochener Willensgott geglaubt wird, ist eine angemessenere Würdigung zeitlich früher Menschheits-K. und technisch armer K. der Naturvölker möglich. Mit dem Glauben an den creator universarum, der deshalb alles kann, weil er alles auch wollen könnte, ist die Möglichkeit gegeben, daß sich der Mensch, als Ebenbild dieses Gottes, mit diesem auch vergleicht. Statt technisches Machverhalten an eine autotechnische φύσις anzugleichen, setzt er dieses in Vergleich mit der ars infinita des Deus creator – zumal er sich zum Herrn und Eigentümer der Natur berufen weiß. So kann HUGO VON ST. VICTOR – in seiner ‹Ars mechanica› – an die «intelligentia creatoris» appellieren und das zivilisierende Schaffen – gleich auf wel cher Stufe – sogar theologisch evozieren. Denn es sind die geistigen Keimkräfte, «die den menschlich- elementaren Künsten und Fertigkeiten des Landbaues, Weinbaues, der Tierzucht, der Schiffahrt, der Jagd und der Kochkunst bereits im Schöpfungsplan eingesenkt sind» [17]. Entsprechend heißt es in der ‹Philosophia sagax› des PARACELSUS: «Die Natur ist eine große Werkstatt, in der Material und Werkzeug bereit liegen, die nur auf den ‹Operator› warten. Was der Mensch schafft, geschieht Deo concedente» [18]. Die Voraussetzung, unter der ein technisch noch so «primitives» Machverhalten eine antiphysische Aureole gewinnen und im Licht einer geistig schöpferischen Leistung verstanden werden kann, ist der Glaube an die Natur als Kreatur und das Selbstverständnis des Menschen, der seine vis volendi mit der Gottes so gläubig vergleichen kann, wie es DESCARTES in der IV. Meditation seiner ‹Prima philosophia› tut. Gradmesser der K.-Höhe wird nun der Grad der Naturunabhängigkeit bzw. der Naturbeherrschung. Selbst ein Verhalten, das eher als ein passives Sicheinfügen in biozönotische Zusammenhänge und als Anpassung an die Periphyse beschrieben werden könnte, kann in dieser Beleuchtung als ein schöpferisches verstanden werden.

    Mit der Herstellung von Zeug und mit dem Gebrauch desselben wird eine «zweite Natur» entdeckt, eine Welt, die der Mensch auch der niederen oder Primitiv-K. der Kooperation von Intelligenz und Hand verdankt. Diese Kooperation mit M. SCHELER als «organisch gebundene» zu definieren, versetzt in die Schwierigkeit, dartun zu müssen, daß artifizielles Machverhalten, wo und wann immer es getätigt wird, nichts weiter als ein naturales Von-selbst-Geschehen sei. Prähistoriker, Ethnologen und Kulturanthropologen wie W. E. MÜHLMANN [19], A. GEHLEN [20], E. ROTHACKER [21] sehen darin jedoch schöpferische K.-Leistungen.

 

    Anmerkungen.

 

[1] W. E. MÜHLMANN: Art. ‹K.›, in: Wb. der Soziol. (21969) 599.

 

[2] I. KANT: Idee zu einer allg. Gesch. in weltbürgerl. Absicht (1784). Akad.-A. 8, 26.

 

[3] W. VON HUMBOLDT: Über die Verschiedenheiten des menschl. Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickl. des Menschengeschlechts (1830–1835). Ges. Werke 7, 30.

 

[4] O. SPENGLER: Der Untergang des Abendlandes 1 (521923) 42f.

 

[5] T. S. ELIOT: Notes towards the definition of culture (London 1949) 13; W. SCHMIDT-HIDDING: Die K.-Zivilisations- Antithese. Sprachforum. Z. angewandte Sprachwiss. 1 (1955) 194.

 

[6] SCHMIDT-HIDDING, a.a.O. 198.

 

[7] E. ROTHACKER: Geschichtsphilos., in: Hb. der Philos. 4 (1934) 75.

 

[8] Vgl. a.a.O. 75f.

 

[9] Probleme der K.-Anthropol. (21965) 26; vgl. 71ff. 99ff.; a.a.O. [7] 25. 68ff.; Rhythmus in Natur und Geist. Stud. gen. 2 (1949) 161ff.; Die Wirkung des Kunstwerks. Jb. für Ästhetik u. allg. Kunstwiss. 2 (1952–54) 1–22; Grundfragen der Kulturanthropol. Universitas 12 (1957) 479f.

 

[10] W. E. MÜHLMANN: Ethnol. und Gesch. Stud. gen. 7 (1954) 170.

 

[11] M. SCHELER: Die Stellung des Menschen im Kosmos (ND 1947) 29.

 

[12] H. BLUMENBERG: «Nachahmung der Natur». Zur Vorgesch. der Idee des schöpferischen Menschen. Stud. gen. 10 (1957) 274.

 

[13] ARISTOTELES, Pol. IV, 8, 1328 b 2.

 

[14] BLUMENBERG, a.a.O. [12] 267.

 

[15] ARISTOTELES, Phys. II, 2, 194 a 21.

 

[16] a.a.O. II, 8, 199 a 15–17.

 

[17] H. FISCHER: Vernunft und Zivilisation: die Antipolitik (1971) 239.

 

[18] ebda.

 

[19] W. E. MÜHLMANN: Umrisse und Probleme einer K.- Anthropol. Homo 7 (1956) 159f.

 

[20] A. GEHLEN: Urmensch und Spätkultur (1956) 11f.

 

[21] E. ROTHACKER: Vom Wesen des Schöpferischen, in: Mensch und Gesch. (1950) 176; Philos. Anthropol. (1964) 27ff.


W. PERPEET

 

 

J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, S. 318-1321.

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