HWPh

Krise (3)

Sur l´eau 2008. 6. 2. 06:58

     III. Der Begriff ‹K.› findet über die Allgemeinmedizin Eingang in die Psychologie und Psychiatrie. Erstmals übertrug wohl der Schelling nahestehende Mediziner und Psychologe C. G. CARUS (1789–1869) den Begriff ‹K.› auf den Entwicklungsverlauf einer seelischen Krankheit: Analog der zeitgenössischen medizinischen Verwendung des Terminus definiert er K. als eine Epoche, in der die Entwicklung der seelischen Krankheit zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Wende zum Besseren oder Schlechteren erfährt. K. geht einher mit einer «stürmischen Aufregung» (Anfall), die entweder in die Phase der Gesundung oder aber in den Prozeß der krankhaften Bewußtseinsänderung (Psychose) überleitet [1]. Plötzlichkeit des Eintritts und Kürze der Dauer sind somit Merkmale der Definition der K. von Carus. Seine Begriffsbestimmung wird erst ungefähr ein Jh. später wieder aufgegriffen und im Zusammenhang mit Entwicklungsverläufen unterschiedlicher Natur neu reflektiert.

Die Verwendung des Begriffes im Problemzusammenhang der Psychotherapie erweitert seine Be deutung gegenüber dem traditionellen Begriffsverständnis der Allgemeinmedizin. Die Definition, die die Merkmale der Plötzlichkeit und Kürze des K.- Verlaufes betont, wird verdrängt von einer Auffassung, die K. unter Umständen als Phase von ausgedehnter Dauer versteht. Der Wendepunkt im Anfall wird somit zur allmählichen Wende.

    Ein erster Anstoß, den K.-Begriff in die theoretische Analyse des psychotherapeutischen Prozesses einzubeziehen, ging von dem Individualpsychologen F. KÜNKEL aus. Er weist der durch Therapie gelenkten «seelischen K.» [2] eine bedeutsame Rolle im Heilungsprozeß bei neurotischen Störungen zu. Neurotische Einstellungen und Verhaltensweisen konstituieren eine krankhafte Daseinsform, von der der Patient ohne scheinbare Selbstaufgabe nicht lassen kann. In der Therapie wird ein Lösungsprozeß von dieser krankhaften Daseinsform eingeleitet durch eine «Phase der Erkenntnis», in der die Schwierigkeiten, die diese Daseinsform in sich birgt, den Patienten deutlich gemacht werden müssen. Ihr folgt eine «Phase der Selbsterkenntnis», in der Ursachen und Zusammenhänge der Schwierigkeiten analysiert werden. Die Selbsterkenntnis stürzt den Patienten in eine «Phase der K.», in der die widerstreitenden Tendenzen des Festhaltens an und des Lösens von der alten Daseinsform in Wettstreit treten. Gelingt die Lösung, dann tritt eine positive Wendung im Heilungsprozeß ein, und die K. mündet in eine allmähliche Umstellung der gesamten Persönlichkeit [3].

    Von der Funktion her betrachtet, interpretiert der Daseinsanalytiker V. E. v. GEBSATTEL in neuerer Zeit die K. im Therapieverlauf ähnlich. In der Therapie gerät der Patient – phänomenologisch betrachtet – in eine Verfassung der «Unentschiedenheit», in der Unvereinbares nebeneinander steht und zu einer heilsamen oder unheilvollen Wende drängt. Aufgabe des Therapeuten ist es, die positive Entscheidung durch seine Analyse zu unterstützen [4]. Die K. des Patienten ist aber zugleich auch K. des Therapeuten, der durch seine methodische und theoretische Voreinstellung die Daseinsform des Patienten nur ausschnittweise erfassen und damit die Umschaltung des Daseins in eine neue Richtung nur unvollkommen mitvollziehen kann. Einer solchen K. des Therapeuten glaubt v. Gebsattel durch die Therapie in Form der Daseinsanalyse zu begegnen, die in ihrer Konzeption von der «totalen interpersonalen Begegnung» ausgeht [5].

    2. Mit der Entfaltung der daseinsanalytischen Richtung in der Psychiatrie wird die Bedeutung von ‹K.› erneut differenziert. Die daseinsanalytische Begriffsbestimmung entfernt sich in ähnlicher Weise wie die psychotherapeutische von der traditionellen medizinischen Definition; zusätzlich wird K. jedoch in den natürlichen Entwicklungsverlauf des Lebens eingebettet und gilt unter Umständen sogar als unentbehrlich für das Reifen eines Menschen.

    Die anthropologische Betrachtungsweise der Daseinsanalyse bewertet das Dasein als «Dauer-K.» oder «Ur-K.» [6], insofern dem Menschen ständig Entscheidungen aufgezwungen werden. Die Dauer-K. des Daseins kann nicht als pathologisch bezeichnet werden, da sie notwendige Begleiterscheinung des menschlichen Werdeganges ist [7]. Sie ist wohl zu unterscheiden von einer K., die den kontinuierlichen Lebensablauf eines Menschen unterbricht, um eine Wende in der Richtung des Lebensweges und zugleich eine Wandlung der Persönlichkeit einzuleiten. In den meisten Fällen kleidet sich diese Art von K. in die Form psychischer Störungsbilder, die in der Psychiatrie beschrieben werden. Merkmal der K. als einer psychischen Krankheit ist nach J. ZUTT [8] und H. PLÜGGE [9], daß die Verfügung über den eigenen Leib als Instrument verloren geht [10]. C. KULENKAMPFF interpretiert dagegen die K. als Abirrung vom Lebensweg, in der eine Veränderung der Anmutungsqualitäten der Umwelt zum Negativen hin erfolgt [11].

    Das neuere daseinsanalytische Begriffsverständnis wurde entscheidend mitgeprägt durch v. GEBSATTELS Einführung des Ausdruckes ‹Werdens-K.›. Die Entwicklung des Menschen als «Geistwesen» ist für ihn nur als Werden, d.h. zeitlich erlebte Lebensbewegung, faßbar. K. sind dann negativ erlebte Phasen im Lebensablauf, die z.B. in Form der Neurose äußerlich manifest werden können. Der Begriff ‹K.› impliziert hier die Bedeutung von ‹Hemmung›, die jedoch Ausgangspunkt für eine neue Entfaltungsrichtung sein kann [12]. Auch Psychosen lassen sich nach v. Gebsattels Auffassung im Sinne einer Werdens-K. verstehen. Bei positivem Ausgang deutet er sie funktional sogar als Reifungsvorgang [13]. Den Gedanken der Reifung durch die K. greift CH. ZWINGMANN auf: Nur die Überwindung einer K. lasse einen Menschen reifen [14]. ‹K.› rückt hier in begriffliche Nachbarschaft zu ‹Läuterung› und kommt damit der Bedeutung des althochdeutschen ‹hreini› (got. hrains), d.h. gesiebt, gesichtet (gereinigt) (verwandt mit griech. κρίνω) nahe [15]. Zwingmann hebt in Abhebung gegen das engere daseinsanalytische Begriffsverständnis die Kulturabhängigkeit von K.-Zuständen hervor. Negative soziale Einstellungen, wie z.B. die Bewertung des Menschen nach seiner Produktionstüchtigkeit, beeinträchtigen das Selbstwertgefühl des Menschen in bestimmten Lebensphasen und rufen K. hervor (z.B. Alters-K.) [16].

    3. In der Entwicklungspsychologie tritt der Reifungsaspekt des K.-Begriffs ganz in den Vordergrund. Der Begriff der ‹Reifungs-K.› in der Entwicklungspsychologie steht in enger Bedeutungsnachbarschaft zu dem der Werdens-K. v. Gebsattels [17]. Die Pubertät sticht als kritische Epoche in der Entwicklung unter allen anderen Phasen hervor. Das Moment der Notwendigkeit von K. für einen positiven Entwicklungsverlauf ist in allen entwicklungspsychologischen Begriffsauffassungen gegeben. Damit verliert ‹K.› völlig die Implikation einer drohen den Katastrophe, die der Begriff auch noch im psychiatrischen Bereich hat. Die Wende oder Entscheidung für eine von mehreren Richtungen bedeutet keine Entscheidung zwischen Heil und Unheil, sondern zwischen zwar nicht immer gleichwertigen, aber auch nicht notwendig dem Wohl des sich Entwickelnden abträglichen Möglichkeiten. Die K. leitet immer über zu einem höheren Entwicklungsniveau [18].

    In E. H. ERIKSONS Ausdruck ‹Identitäts-K.› spiegelt sich die Entfaltung des K.-Begriffes in der Entwicklungspsychologie besonders deutlich. Die positive Wertung der K. gründet nach Erikson in der Auffassung, daß sie eine notwendige Wende darstelle, in der die Entwicklungsrichtung bestimmt wird und sich Hilfsquellen des Wachstums, der Wiederherstellung und der weiteren Differenzierung eröffnen [19]. Der Begriff ‹Identitäts-K.› wurde geprägt bei der Untersuchung psychopathologischer Erscheinungen, die Kriegsveteranen im zweiten Weltkrieg zeigten. Das so bezeichnete Syndrom von Störungen bestand in dem Verlust des Gefühls, sich selbst gleich geblieben zu sein und zu bleiben bzw. im Verlust des Erlebens der eigenen historischen Kontinuität. Ähnliche Beobachtungen konnten auch am Kriminellen und an Menschen in starken Konfliktsituationen gemacht werden. Gleichzeitig wurde festgestellt, daß die Identitäts-K. auch normativen Charakter in bestimmten Lebensaltern haben kann, so z.B. in der Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter. Erst, wenn sich die K. über das übliche Alter hinaus erstreckt oder zu einem späteren Zeitpunkt eine Regression in die K. erfolgt, wird die normative K. zur pathologischen [20].

    4. Neben diesen fachlich spezifischen Begriffsverwendungen finden sich einzelne Problem- und Begriffsanalysen, die versuchen, allgemeine Merkmale eines K.-Verlaufes herauszustellen und damit einen ersten Schritt zu einer allgemeinen K.-Bestimmung zu liefern. Ein erster Beitrag findet sich bei V. VON WEIZSÄCKER. Er stellt her aus, daß das Wesen der K. mehr sei als nur der Übergang von einer Ordnung zur anderen; es bestehe vielmehr in der Preisgabe der Kontinuität oder Identität des Subjektes selbst. Gemäß seiner Deutung der K. manifestiert sich angesichts des drohenden Verlustes erst das Subjekt. Es erfährt in ihr die Aufgabe seiner endlichen Gestalt. Begleiterscheinungen der K., wie Angst, Ohnmacht, Katastrophenreaktionen, werden aus der Bedrohung des Ich verständlich [21].

    Während v. Weizsäckers Analyse von der Individual-K. ausgeht, veröffentlichten C. und H. SELBACH 1956 eine einheitliche Beschreibung der Individual- und Kollektiv-K. [22]. Sie identifizieren K. als Regelkreisfunktion mit gesetzmäßigem Ablauf. Der Vergleich von K.-Verläufen ergibt zunächst das Drei-Phasen-Prinzip: In der vorkritischen Phase erfolgt unter hoher Spannung der Verlust des persönlichen Gleichgewichts oder biologisch formuliert: Homöostase-Verlust. Mit ansteigender Spannung tritt ein Zustand der Labilität ein, dessen Kennzeichen die Ungewißheit über die Richtung des einzuschlagenden Entwicklungsverlaufes ist. Steigt die Spannung bis zum organisch möglichen Maximum, werden alle verfügbaren Funktionen auf einen Vorgang konzentriert (Synchronisation). Das System gerät in die Gefahr der Überlastung, die eine Entscheidung erzwingt; jetzt tritt die Wende ein, spontan oder durch einen äußeren Anstoß. Es kommt zum Umschlag der Wirkungsrichtung (Kipp-Phänomen) mit überkompensatorischem Verlauf. Mit diesem Umschwung und dem Beginn der Rückkehr zur Norm endet die K. In der nachkritischen Phase erfolgt ein Einpendeln auf ein neues Gleichgewicht. Je instabiler das System vor Eintreten der K. war, um so größer ist die K.-Bereitschaft dieses Systems. Diese Regel erläutert, warum z.B. in der Pubertät die K.-Anfälligkeit gegenüber anderen Lebensabschnitten oder unter instabilen politischen Verhältnissen Kollektiv-K., wie z.B. Revolutionen, mit höherer Wahrscheinlichkeit auftreten.

 

    Anmerkungen.

 

[1] C. G. CARUS: Vorles. über Psychol. (1831) 227. 245.

 

[2] F. KÜNKEL: Die Rolle der seelischen K. Int. Z. Individualpsychol. 8 (1930) 36–43.

 

[3] a.a.O.

 

[4] V. E. v. GEBSATTEL: K. in der Psychother. Jb. Psychiat. u. Psychother. 1 (1952) 66–78.

 

[5] a.a.O.

 

[6] a.a.O.

 

[7] Gedanken zu einer anthropol. Psychother., in: Hb. der Neurosenlehre und Psychother., hg. E. FRANKL u.a. (1959) 531–567.

 

[8] J. ZUTT: Der Lebensweg als Bild der Geschichtlichkeit. Der Nervenarzt 25 (1954) 426–428; vgl. Kurzfassung in: Zbl. ges. Neurol. u. Psychiat. (= ZNP) 130 (1954) 8.

 

[9] H. PLÜGGE: Über K. als Verlaufsart innerer Erkrankungen. ZNP 130 (1954) 7–8.

 

[10] ZUTT, a.a.O. [8].

 

[11] J. C. KULENKAMPFF: Zur Klinik der K. ZNP 130 (1954) 8–9.

 

[12] v. GEBSATTEL, a.a.O. [7] 562ff.

 

[13] Reifungs-K. in Psychoseform. ZNP 130 (1954) 9–10.

 

[14] CH. ZWINGMANN (Hg.): Zur Psychol. der Lebens-K. (1962) Einl.

 

[15] Vgl. v. GEBSATTEL, a.a.O. [4] 67; E. WASSERZIEHER: Woher? Ableitendes Wb. der dtsch. Sprache (1927).

 

[16] a.a.O. XVff.

 

[17] z.B. H. W. LÖWNAU: Reifungs-K. im Kindes- und Jugendalter (1961).

 

[18] O. F. BOLLNOW: Existenzphilos. und Pädag. (1959) Kap. 1.

 

[19] E. H. ERIKSON: Jugend und K. (1970); Wachstum und K. der gesunden Persönlichkeit (1964).

 

[20] a.a.O. (1970) 12ff.

 

[21] V. v. WEIZSÄCKER: Der Gestaltkreis (41950) 174ff.

 

[22] C. und H. SELBACH: K.-Analyse. Stud. gen. 9 (1956) 395–404.

 

    Literaturhinweise. C. und H. SELBACH s. Anm. [22]. – Sber. Südwestdtsch. Neurologen und Psychiater. (Juni 1954), in: ZNP 130 (1954) 7–11.

 

U. SCHÖNPFLUG

 

J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, S. 1242-1245.

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