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Kritik (2)

Sur l´eau 2008. 6. 3. 13:14

     2. Der philologisch-logische Begriff der K. – Aus solchen Bestimmungen des Begriffs bildete sich dann der spezielle Sinn des Begriffs der K., wie er durch die Stoa wirksam geworden ist und dann auch die beginnende Neuzeit geprägt hat. Ein direkter Einfluß der platonischaristotelischen Bestimmungen ist dabei allerdings kaum anzunehmen.

    Der philologische Beruf erhielt seit etwa 300 v.Chr. neben den Bezeichnungen des Grammatikers (γραμματικός) und des Philologen (φιλόλογος) die des Kritikers (κριτικός) [1]. Nach späterem Zeugnis scheint sogar der Name des «Kritikers» der ursprüngliche terminus technicus für Literaturwissenschaftler gewesen zu sein [2]. Doch mögen diese Zeugnisse auch nur das Ende der im folgenden geschilderten stoischen Entwicklung des Begriffs anzeigen. Der pseudo-platonische Dialog ‹Axiochos› (aus dem Ende des 4. Jh.) zählt an einer Stelle die Lehrer auf, die für die Erziehung eines Knaben in Frage kamen: Nach den Elementarlehrern folgen dann, wenn der Knabe herangewachsen ist, die Lehrer der «Sekundarstufe», Literaturlehrer, Mathematiklehrer und Taktiklehrer, der erste heißt «Kritiker» (αὐξανομένου δὲ κριτικοί, γεωμέτραι, τακτικοί) [3]. Der um 300 in Ägypten lebende Skeptiker Hekataios von Abdera «wird neben Grammatiker auch Kritiker genannt», wohl weil er ein Buch ‹Über die Dichtung Homers und Hesiods› geschrieben hat (ἐπεκλήθη καὶ κριτικὸς γραμματικός) [4].

    STRABON nennt zwar auch einen der ältesten Alexandriner «Dichter und Kritiker» (ποιητὴς ἅμα καὶ κριτικός) [5], aber in der Folgezeit gewann die Bezeichnung des Kritikers im Streit zwischen der alexandrinischen und der pergamenischen – unter stoischem Einfluß stehenden – Philologenschule eine besondere Bedeutung. Während sich die Alexandriner infolge ihrer Tätigkeit – Text-K. und Editionsarbeit – als γραμματικοί bezeichneten, nahmen die Pergamener, vor allem ihr Schulhaupt KRATES VON MALLOS im Gegensatz zum Alexandriner Aristarch, den philosophischer gemeinten Namen der κριτικοί für sich in Anspruch [6]. Krates, den das Suidas-Lexikon einen stoischen Philosophen nennt und der dort als «Homerkundiger und Kritiker wegen seiner Betrachtung von philologischen und dichterischen Texten» apostrophiert wird [7], hat dem Namen der K. seinen besonderen Rang gegeben. DIOGENES BABYLONIUS (von Seleukia; zweiter Nachfolger Chrysipps in der Leitung der Stoa und Verfasser einer Sprachlehre), der wohl Krates' Lehrer war [8], soll nach PHI LODEM die K. der Philosophie zugewiesen haben; man behauptet zwar, «daß die Musenfreunde [die Philologen] eine bestimmte Theorie hätten, die der K. ähnlich sei» (τῇ δὲ κριτικῇ ... παραπλησίαν τινὰ θεωρίαν ἔχειν τοὺς φιλομουσοῦντας), aber dies zeigt Philodems Urteil nach nur Unwissenheit, und eine solche Theorie würde zu wenig erreichen, «vor allem auch, insoweit er [der nämlich derartiges behauptete] nicht, wenn es etwas derartiges gäbe, den Philosophen das Urteil zuwiese, und wahrhaftig, insoweit er die K., zu der, wie behauptet wurde, die Musenkunst etwas Ähnliches hätte, nicht diesen [nämlich den Philosophen], sondern den sogenannten Kritikern zugestünde» [9]. KRATES macht mit diesem Programm ernst, er nimmt K. ganz als philosophische für sich in Anspruch und verweigert sie den bloßen Grammatikern der alexandrinischen Schule. Die K. des Krates besteht einmal in jener durch die Stoa bekannt gewordenen allegorischen Auslegung, die es erlaubte, Homer und anderer religiös oder sittlich verbindlicher Dichtung einen lehrhaften und moralischen Zweck unterzulegen, der durch stoische Lehren vorgezeichnet ist, zum anderen in der Beobachtung von Sprachanomalien, die durch Gewohnheit festgelegt sind und ihn die Vielfalt von Dialekten erkennen und beurteilen ließen [10]. Aber daß Krates die K. der Grammatik überordnete, hatte auch noch einen anderen formalen Sinn, der aus der Einteilung der stoischen Logik stammte. Das Zeugnis des SEXTUS EMPIRICUS macht dies klar. In der von ihm referierten Bestimmung der Grammatik, daß sie sich «nicht mit dem Bezeichneten, sondern mit dem Bezeichnenden» beschäftige, beruft er sich ausdrücklich auf diese stoische Unterscheidung (καὶ οὐχ ᾗπερ οἱ στωικοὶ τὸ σημαινόμενον, ἀλλ' ἀνάπαλιν τὸ σημαῖνον) [11] und bezieht diese dann auf die Unterscheidung von K. und Grammatik durch Krates: «Denn das Gedachte ist nur mit dem Bezeichneten getroffen. Damit scheint er [nämlich Chares, von dem Sextus Empiricus gerade berichtet hat] einen Gedanken von Krates in Erwägung zu ziehen. Denn dieser sagte, daß der Kritiker sich vom Grammatiker unterscheide. Und zwar muß der Kritiker, so sagte er, sich in der ganzen logischen Wissenschaft auskennen, der Grammatiker dagegen muß nur Sprachen erklären ...» (τὸ γὰρ νοητὸν ἐπὶ τοῦ σημαινομένου μόνον παρείληπται. ἔοικε δὲ καὶ Κρατητειόν τινα κινεῖν λόγον. καὶ γὰρ ἐκεῖνος ἔλεγε διαφέρειν τὸν κριτικὸν τοῦ γραμματικοῦ· καὶ τὸν μὲν κριτικὸν πάσης, φησί, δεῖ λογικῆς ἐπιστήμης ἔμπειρον εἶναι, τὸν δὲ γραμματικὸν ἁπλῶς γλωσσών ἐξηγητικὸν...) [12]. Unter der «logischen Wissenschaft» (λογικὴ ἐπιστήμη) im stoischen Verständnis war wohl alles zu verstehen, was später in den ‹artes liberales› behandelt wurde [13]. Noch Galen schreibt CHRYSIPP die Annahme zu, «daß eine einzige Fähigkeit in der Seele, die sogenannte logische und kritische existiere» (τῷ μίαν ὑποθεμένῳ δύναμιν ὑπάρχειν ἐν τῇ ψυχῇ, τὴν λογικήν τε καὶ κριτικὴν ὀνομαζομένην; im lateinischen Paralleltext: «rationalis et judiciaria facultas») [14].

    An späterer Stelle bezeichnet SEXTUS EMPIRICUS die Schüler des Krates als κριτικοί und teilt die K. näher ein, so daß die Grammatik nur als untergeordneter Teil der K. erscheint [15]. K. wird nun nicht mehr als bloße Philologie bestimmt, sondern diese beschäftigt sich nach diesen Unterscheidungen – so kann man diese Stelle ausdeuten – als Grammatik nur mit der Erklärung von Dialekten, der Untersuchung von Versmaßen usw., also mit alledem, was nach der grundsätzlichen Einteilung der stoischen Logik zum «bezeichnenden Teil» (περὶ σημαινόντων ἢ περὶ φωνῆς) gehört. Der zweite wichtigere Teil der Logik, der das Gemeinte beurteilt, der Teil περὶ σημαινομένων ἢ λεκτῶν, in welchem es also um die inhaltliche Beurteilung des von der Grammatik festgestellten Textes geht, nach der klassischen Logik die Urteilslehre, wird danach zur K. gezählt.

    Nach einer stoischen Einteilung der Logik wurde diese unterteilt in einerseits Rhetorik, in der es um das «Wohlreden» (τὸ εὖ λέγειν) ging, und andererseits Dialektik, die die «richtige Unterredung» (τὸ ὀρθώς διαλέγεσθαι) behandelte; das Zenonische Bild von der offenen Hand und der geballten Faust veranschaulicht den Unterschied [16]. Weil aber die stoische Logik pointiert Aussagenlogik ist [17] – darum auch ‹Dialektiker› und ‹Kritiker› bei der Beschreibung der stoischen Philosophie fast synonym gebraucht werden [18] – vernachlässigte sie ganz den ersten Teil, die Rhetorik. CICERO bemängelte denn auch das Fehlen der Rhetorik bei den Stoikern, die sich nur um die «via iudicandi» (ea scientia, quam διαλεκτικὴν appellant) gekümmert und die «ars inveniendi» (quae τοπικὴ dicitur) völlig vernachlässigt hätten, derart den Organismus der Philosophie ganz bis auf das logische Knochengerüst entblößend [19].

    So konnte es geschehen, daß die spätere Tradition der Dialektik, die nun nach dem Vorbild Ciceros von der Rhetorik ausging und darum vor allem die ‹ars inveniendi› betonte, und nicht mehr wie die stoische Dialektik oder K. von der Philologie, diese Bedeutung der K. vernachlässigte bzw. sie wieder ganz der Grammatik gleichsetzte, so daß dann auch der Begriff der ‹K.› allmählich in Vergessenheit geriet. Zwar schwand nun auch durch die geschichtlichen Ereignisse und durch den damit zusammengehenden Niedergang der Philologie der Gegensatz der Schulen von Alexandria und Pergamon, und nun konnten κριτικός und γραμματικός wieder synonym gebraucht werden bzw. der letzte Ausdruck den ersten fast ganz verdrängen. So konnte EUSTATHIUS im 4. Jh. n.Chr. beide wieder verbinden: «Die Kritiker, so sagte er, verstehen es, die Dichtwerke [Homers] entsprechend der grammatischen Überlieferung zu beurteilen» (κριτικοὺς εἰπὼν τοὺς κατὰ τὴν γραμματικὴν παράδοσιν εἰδότες κρίνειν τὰ ποιήματα) [20]. Dies gilt auch für die Aufnahme des Wortes ‹K.› ins Lateinische bei Cicero und Horaz [21].

    Doch die stoische Einteilung der Logik blieb daneben, indem sie von der rhetorischen Dialektik bekämpft wurde, im Zitat erhalten, bis dann nach dem erneuten Aufleben der Philologie im 16. Jh. PETRUS RAMUS auf den stoischen Begriff der K., den er durch Quintilian kennenlernte, zurückgriff. Die ramistische Logik machte dann zusammen mit der Wiederentdeckung der Philologie die Aufklärung zur Blütezeit des Begriffs der K.

    CICERO beruft sich an der angegebenen Stelle in ‹De oratore› auf Diogenes Babylonius, der an der berühmten Philosophen-Gesandtschaft nach Rom 156/55 teilnahm. Ebenso aber hätte er den stoisch pergamenischen Begriff der K. durch Panaitios kennenlernen können, dessen Lehrer Krates von Mallos war und der eine ähnliche Methode der Interpretation wie dieser ausgearbeitet hatte – auch Polybios soll von dieser kritischen Weise der Geschichtsauffassung beeinflußt sein [22]. Für QUINTILIAN, der die gesamte antike Rhetorik zusammenfaßt und sich vor allem an Cicero anlehnt, ist die Trennung zwischen Rhetorik und Dialektik längst vollzogen. Er warnt davor, in der Gerichtsrede zu viele Syllogismen zu gebrauchen und sie dadurch den dialektischen Unterredungen allzu ähnlich werden zu lassen. Die Rede soll reich, glänzend und gebieterisch sein, denn «sie ist auf das Urteil anderer hin einzurichten» (ad aliorum iudicia componenda est oratio) [23]. Ganz anders verhält es sich bei der Dialektik, deren Aufgabe und Unterteilung nach den stoischen Bestimmungen Quintilian nun noch einmal nennt: «Namque in illis [sc. dialecticis disputationibus] homines docti et inter doctos verum quaerentes minutius et scrupulosius scrutantur omnia et ad liquidum confessumque perducunt, ut qui sibi et inveniendi et iudicandi vindicent partis, quarum alteram τοπικήν, alteram κριτικήν vocant» (Denn in jenen [den dialektischen Unterredungen] suchen gelehrte Menschen unter Gelehrten nach dem Wahren, durchforschen alles bis ins Kleinste und mit ängstlicher Genauigkeit und führen es zur Gewißheit und zum allgemein Zugestandenen, so daß sie für sich sowohl den Teil der Findung wie den der Beurteilung in Anspruch nehmen, deren einen sie Topik, deren anderen sie K. nennen) [24].

    Bei der Einteilung der Redeteile weist Quintilian nun zwar die Trennung von ‹inventio› und ‹iudicium› ab, als sei jene die erste und dieses käme danach, weil seiner Meinung nach derjenige noch nicht einmal etwas gefunden hätte, der es nicht beurteilt («ego porro ne invenisse quidem credo eum, qui non iudicavit»), und zwar ausdrücklich gegen Cicero, der in seiner Rhetorik das Urteil der Findung untergeordnet habe («Cicero quidem in rhetoricis iudicium subiecit inventioni») und den er so zurechtzurücken gedenkt [25]. Denn Quintilian ist der Meinung, daß sich die Lehre vom Urteil nicht gesondert als Kunstlehre behandeln lasse, sondern daß diese als Urteilskraft so wenig lehrbar ist wie Geschmack oder Geruch [26].

    Aber diese dem common sense des Rhetoriklehrers würdige Ablehnung einer abstrakten Trennung hat erst spät Nachfolger gefunden. Die Unterscheidung und Unterordnung von via inventionis und via iudicii, die die Logik grundsätzlich in zwei Teile trennte, hat sich in der ciceronisch-boethianischen Tradition der Dialektik durchgesetzt [27] und damit zu dem bekannten Methodenproblem des späten Mittelalters geführt, auf das dann die Methodologie der Humanisten wie der Rationalisten antwortete [28].

 

    Anmerkungen.

 

[1] K. LEHRS: De vocabulis PHILÓLOGOS, GRAMMATIKÓS, KRITIKÓS, in: Herodiani scripta tria emendatiora (Königsberg 1848) 379–387; vgl. bes. GUDEMAN, a.a.O. [3 zu 1] 1912–1915.

 

[2] ebda.

 

[3] PS.-PLATON, Axiochos 366 e 2f.

 

[4] VS 2, 240; vgl. GUDEMAN, a.a.O. [3 zu 1] 1913.

 

[5] ebda.

 

[6] ebda.; vgl. aber SEXTUS EMPIRICUS, Adv. Math. I, 44, für den Pergamener und Alexandriner in gleicher Weise «Grammatiker» sind.

 

[7] SUIDAS, s.v. KRATÉS; vgl. GUDEMAN, a.a.O. [3 zu 1] 1913.

 

[8] A. LESKY: Gesch. der griech. Lit. (21957/58) 842.

 

[9] SVF 3, 233.

 

[10] LESKY, a.a.O. 842f.; M. POHLENZ: Die Stoa (1948) 1, 182f.; W. KROLL, Art. ‹Krates›, in: RE 11, 1635f.; vgl. W. DILTHEY, Ges. Schr. 5, 321f.

 

[11] SEXTUS EMPIRICUS, Adv. math. 1, 78; SVF 1, 485. 488; 2, 38. 43ff. 48ff.; vgl. POHLENZ, a.a.O. 38ff.

 

[12] SEXTUS EMPIRICUS, Adv. math. 1, 78f.

 

[13] R. HIRZEL: Untersuch. zu Ciceros philos. Schr. 2 (1882, ND 1964) 904f.

 

[14] GALEN, De Hipp. et Plat. decretis. Opera omnia, hg. C. G. KÜHN, 5, 590.

 

[15] SEXTUS EMPIRICUS, Adv. math. 1, 248f.

 

[16] DIOGENES LAERTIUS, VII, 41f.; QUINTILIAN, Inst. orat. II, 20, 7.

 

[17] Vgl. M. FREDE: Die stoische Logik (1974) 32ff.

 

[18] SVF 3, 164; vgl. C. PRANTL: Gesch. der Logik (1855–1885) 1, 419.

 

[19] CICERO, Topica II, 6; vgl. De oratore II, 38, 157ff.; De finibus IV, 3, 6ff., bes. 4, 10; vgl. PRANTL, a.a.O. 1, 513.

 

[20] GUDEMAN, a.a.O. [3 zu 1] 1913; vgl. dort weitere Belege für den synonymen Gebrauch beider Begriffe.

 

[21] a.a.O. 1913f.

 

[22] HIRZEL, a.a.O. [13] 2, 257ff. 841ff., bes. 850. 873f. 882ff.

 

[23] QUINTILIAN, Inst. orat. V, 14, 27ff., bes. 29.

 

[24] a.a.O. V, 14, 28.

 

[25] III, 3, 5f.

 

[26] VI, 5, 1f.

 

[27] Vgl. PRANTL, a.a.O. [18] 1, 513. 681. 720ff.; 3, 92. 253f.; vgl. BOETHIUS, De diff. top. MPL 64, 1173.

 

[28] Vgl. Art. ð ‹Dialektik III›; v. BORMANN, a.a.O. [23 zu 1] 93ff.

  

 

J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, S. 1251-1255.

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