HWPh

Kritik (5)

Sur l´eau 2008. 6. 3. 13:34

     II. Der Begriff der K. von Kant bis zur Gegenwart. – 1. Vorkritische Philosophie Kants. – Die zentrale philosophische Bedeutung, die ‹K.› bei KANT gewinnt, belegen schon die Titel seiner Hauptwerke. Dabei werden die begriffsgeschichtlichen Weichen in der ‹K. der reinen Vernunft› und ihrer Vorgeschichte gestellt. Der Terminus ‹K.› taucht beim jungen Kant, ganz der zeitgenössischen Diskussionslage entsprechend, primär in Reflexionen zur Ästhetik und Logik auf; die früheste Anführung («Critick der lateinischen Sprache» [1]) bezieht sich auf den philologischen K.-Begriff. Die als «K. des Geschmacks» vorgestellte Ästhetik hat mit der als «K. der Vernunft» gelehrten Logik so nahe Verwandtschaft, daß «die Regeln der einen jederzeit dazu dienen, die der andern zu erläutern» [2]. Beide K. bestehen in der Kunst der Beurteilung von Gegebenem: eines Kunstprodukts [3] bzw. von Gedanken. Auf die zeitgenössische Diskussion um die Rationalität und Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils [4] nimmt wohl die frühe Reflexion Bezug, in der K. als «Vernunfterkentnis» bestimmt wird, «die keine anderen principia hat als empirische Begriffe» [5]. Das gilt auch für jene Gattung logischer «K. der Vernunft», die Kant als «K. und Vorschrift des gesunden Verstandes» [6] oder als «critica sensus communis» [7] Studienanfängern lehren will. Denn diese erhebt, mit ähnlich kathartischer Wirkung wie die Grammatik für den Sprachgebrauch [8], die im außer- und vorwissenschaftlichen Denken ohne Kenntnis angewandten Regeln und klärt durch Reapplikation dieser Regeln in propädeutischer Absicht Vorurteile und Irrtümer auf. Die Logik selbst, die hier als «Mittel der diiudication» bzw. als «Disziplin» verwandt wird, ist aber – im Unterschied zur K. des Geschmacks – theoriefähig: «Sie ist eine Critick, deren Regeln a priori demonstrabel seyn» [9]. Als eine Doktrin, «welche auf allgemeinen Grundsätzen der Vernunft beruhet» [10], konzipiert denn auch Kant die zweite Gattung logischer Wissenschaft, «die K. und Vorschrift der eigentlichen Gelehrsamkeit» (Organon der Wissenschaften) [11]. «Doktrin» (eigentliche Logik) und «K.» treten in den Reflexionen der sechziger Jahre oft sogar in Gegensatz [12] (ebenso die Kennzeichnungen «dogmatisch» und «kritisch» [13]). Als kritische Aufgabe hinsichtlich der «gesamten Weltweisheit» nimmt Kant zusammenfassend in Aussicht, «Betrachtungen über den Ursprung ihrer Einsichten sowohl, als ihrer Irrtümer anzustellen und den genauen Grundriß zu entwerfen, nach welchem ein solches Gebäude der Vernunft dauerhaft und regelmäßig soll aufgeführt werden» [14].

    Dieses, die spätere K.-Konzeption vorwegnehmende Programm zeigt, auf Metaphysik angewendet, ausgesprochen destruktive Züge. Der negative Nutzen dieser Wissenschaft, «die falsche metaphysic zu verhindern» [15], «der unbekannteste und zugleich der wichtigste», überwiegt den positiven, Einsichten in die «verborgenem Eigenschaften der Dinge durch Vernunft» zu gewähren. Metaphysik ist also primär «eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft» [16]. Über diese Bestimmung wandert der K.-Begriff aus der Logik in die Metaphysik ein. In Reflexion 3964 (1769) heißt es: «Die Metaphysik ist eine Critik der reinen Vernunft und keine doctrin» (wie die Logik) [17]. Die kritisch-metaphysische Betrachtung von Erkenntnis ist «subiectiv und problematisch», die doktrinale «obiectiv und dogmatisch» [18]. Die kritische Behandlung der Metaphysik tritt das Erbe der skeptisch-kathartischen [19] an; die 1765 diagnostizierte «Crisis der Gelehrsamkeit», in der sich die alte Weltweisheit selbst zerstört, um in der Auflösung «die so längst gewünschte große revolution der Wissenschaften» vorzubereiten [20], findet ihre bewußte Durchführung in der ‹K. der reinen Vernunft›. Diesen Titel, anstelle der zunächst ins Auge gefaßten Formulierung «Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft», nennt Kant erstmals 1772 in einem Brief an M. Herz [21]. Er charakterisiert schon in der Entstehungszeit des Werkes die geplante K. wie folgt: a) Sie bestimmt «die Quellen der Metaphysic, ihre Methoden und Grentzen» [22]; b) sie gilt teils als Metaphysik bzw. deren erster Teil [23], teils als propädeutische Disziplin zur Metaphysik (der Natur und der Sitten) [24]; c) sie verfolgt metaphysische Behauptungen und Gegenbehauptungen zur selben Sache auf ein Drittes hin: eine vermutete «illusion des Verstandes» [25]; d) sie ist «Studium des subiects», Aufdeckung und Verhütung der Verwechslung von Subjektivem und Objektivem, und als solche Transzendentalphilosophie [26].

 

    Anmerkungen.

 

[1] I. KANT, Refl. 1956 (ca. 1755) = Akad.-A. 16, 170.

 

[2] Nachr. von der Einrichtung seiner Vorles. (1765). Akad.-A. 2, 311.

 

[3] Vgl. Refl. 626 = 15, 271.

 

[4] Vgl. A. BÄUMLER: Kants KU, ihre Gesch. und Systematik 1: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jh. bis zur KU (1923, ND 1967) 96ff.; Art. ‹Geschmack III›; KANT, Refl. 622ff. = 15, 269ff.; Refl. 670f. = 15, 297; Refl. 1787ff. = 16, 114ff.

 

[5] Refl. 3716 (um 1765?) = 17, 255.

 

[6] Akad.-A. 2, 310.

 

[7] Refl. 1579 = 16, 18.

 

[8] Refl. 1574 = 16, 14; Refl. 1579 = 16, 19.

 

[9] Refl. 1585 = 16, 26; vgl. Refl. 1579 = 16, 19.

 

[10] Refl. 671 (1769/70) = 15, 297; vgl. Refl. 1579 = 16, 19.

 

[11] 2, 310.

 

[12] Refl. 1575, 1579, 1587 u.a.

 

[13] Vgl. Refl. 1581 = 16, 24; Refl. 1587 = 16, 26.

 

[14] 2, 310.

 

[15] Refl. 3943 (Ende der 60er Jahre) = 17, 358.

 

[16] Träume eines Geistersehers. Akad.-A. 2, 367f.

 

[17] 17, 368; vgl. Refl. 3970 (1769) = 17, 370 («Die Met. ist die Critik der Menschlichen Vernunft ...»).

 

[18] Refl. 3970.

 

[19] Vgl. Br. an M. Mendelssohn (8. 4. 1766) = 10, 70f.

 

[20] An Lambert (31. 12. 1765) = 10, 57.

 

[21] 10, 132 (21. 2. 1772); vgl. 10, 123. 129.

 

[22] ebda.; vgl. Refl. 4455 (ca. 1772) = 17, 558.

 

[23] 10, 132.

 

[24] Refl. 4466 (ca. 1772) = 17, 562; vgl. 10, 145 (1773) u.a.

 

[25] Refl. 5037 = 18, 69; vgl. N. HINSKE: Kants Weg zur Transzendentalphilos. Der dreißigjährige Kant (1970) bes. 97ff. 123ff.

 

[26] KANT, Refl. 4455.

 

 

J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, S. 1267-1268.

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