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사회 (6)

Sur l´eau 2009. 2. 20. 05:28

Gesellschaft. – 6. Der G.-Begriff eines pluralistischen Systems, das sich in vielen Schichten und Ebenen entfaltet (G. GURVITCH), führt konsequenterweise zur Trennung von Mikro- und Makrosoziologie, zwischen denen die Lehre von der Gruppe eine Mittelstellung einnimmt. Die Betrachtung gesamtgesellschaftlicher Strukturen ist heute – vor allem durch die amerikanische Kleingruppenforschung – zugunsten der Analyse kleinerer, den Methoden empirischer Sozialforschung (z.B. der Soziometrie; J. L. MORENO) leichter zugänglicher Teilstrukturen zurückgetreten. F. ZNANIECKI hat daraus die Konsequenz gezogen, den G.-Begriff durch den der Gruppe zu ersetzen. Allgemein wird heute das Gruppenleben als ein wichtiger Bestandteil der G. angesehen.

    Da das Wort ‹G.› leicht zu Spekulationen, vor allem zu substantialisierenden Vorstellungen, verführt, hat L. v. WIESE es durch einen neutraleren Begriff ersetzt. Für ihn ist nicht die G. Gegenstand der Soziologie, «weil sich damit sogleich die irrige Vorstellung einschleicht, die G. sei ein Substantivum, ein Objekt oder eine Substanz» [26], sondern «das Soziale», d.h. «eine Gesamtheit von beobachtbaren Prozessen» [27], die «alle Äußerungen und Bekundungen des zwischenmenschlichen Lebens» umfaßt [28] und «eine unaufhörliche Kette von Geschehnissen» bildet, «in denen sich Menschen enger miteinander verbinden und voneinander lösen» [29]. «Sie behandelt den Menschen als Mit- und Gegenmenschen» [30]. Diese «vitalen Interrelationen» zwischen Menschen kann man mit T. GEIGER auch als «soziale Interdependenz» bezeichnen [31]. Damit ist G. kein ruhendes Gebilde, «sondern ein Kräftespiel in dauernder Tätigkeit» [32]. «Dies ist auch der Begriff G., wie er im Mittelpunkt der modernen Soziologie steht» [33]. Der moderne G.-Begriff ist vor allem durch diesen dynamischen Funktionsaspekt geprägt: «Eine G. ist eine organisierte Gesamtheit von Menschen, die in einem gemeinsamen Gebiet zusammenleben, zur Befriedigung ihrer sozialen Grundbedürfnisse in Gruppen zusammenarbeiten, sich zu einer gemeinsamen Kultur bekennen und als eigenständige soziale Einheit funktionieren» [34]. Ähnlich wie v. Wiese betrachtet auch P. A. SOROKIN [35] die Wechselbeziehungen unter den Menschen (human interactions) als den eigentlichen Gegenstand der Soziologie. L. v. WIESE geht im wesentlichen von G. Simmels Auffassung aus, daß G. keine Substanz, sondern ein Geschehen sei und das Hauptthema der Soziologie in der Herausarbeitung der verschiedenen sozialen Beziehungen liege [36]. Vor Simmel hatte bereits G. TARDE die Aufmerksamkeit auf die menschlichen Wechselbeziehungen als das eigentlich Soziale gelenkt. Damit wird nicht mehr – wie überwiegend in der antiken und mittelalterlichen Philosophie – nach Sinn oder Ursprung, sondern nach den tatsächlichen Erscheinungsformen der G., die sich zunächst auf den zwischenmenschlichen Bereich beschränken, gefragt. Die nächste Frage geht dahin, wie diese Gleichförmigkeiten und Wiederholungen, die ja eine G.-Wissenschaft überhaupt erst ermöglichen, zu erklären sind. Tarde hat diese Gleichförmigkeiten auf rein reaktive Nachahmungen zurückgeführt [37]. E. DURKHEIM hat später gezeigt, daß Wiederholungen und Gleichförmigkeiten nicht reaktiv, sondern nur sozial erfaßt werden können. Individuum und G. bilden demzufolge keine Gegensätze, sondern sie sind untrennbar miteinander verbunden. Das menschliche Individuum wird im wesentlichen durch seinen Status und seine Rolle in der ihn umgebenden G. bestimmt. «Damit erscheint G. immer mehr als ein verwickeltes System von sozialen Handlungen, Gruppen und Verhaltensnormen» [38]. Bezeichnet man (mit L. v. Wiese) Tarde als Individuali sten und Durkheim als Universalisten, so nimmt R. WORMS «in Überwindung dieser falschen und künstlich geschaffenen Gegensätze» einen vermittelnden Standpunkt ein, nach dem das Soziale aus individuellen Elementen besteht, das Individuelle von sozialen Elementen erfüllt ist und die G. nicht neben den Individuen, sondern als Organisation der Menschen existiert [39]. Dabei vertrat Worms in seinen jüngeren Jahren eine weitgehende Analogie zwischen Leib und G. [40]. Der Gedanke des Organizismus ist heute allgemein überwunden und wird nur noch vereinzelt vertreten (z.B. H. v. HENTIG: «Die G. in der die Menschen leben, läßt sich als ein geschlossener Organismus verstehen» [41]).

    Die moderne soziologische Theorie hat verschiedene neue G.-Begriffe zur Diskussion gestellt. In der vor allem von Ethnologen und Sozialanthropologen (A. R. RADCLIFFE-BROWN, B. MALINOWSKI, R. THURNWALD) entwickelten strukturell-funktionalen Theorie steht – in Anlehnung an die biologisch- kybernetische Systemtheorie – der Begriff des sozialen Systems (T. PARSONS) im Vordergrund. Dabei wird G. als ein autarkes Sozialsystem verstanden, in dem die Dichotomie von Individuum und Kollektiv durch die Konzeption standardisierter und integrierter sozialer Rollen überwunden wird. Nach dieser Lehre bestehen die Einheiten der G. nicht aus Individuen, sondern aus «sozialen Interaktionen». Da die G. je nach der Umwelt im Laufe der Entwicklung immer stärkere Differenzierungen aufweist, kann sie auch als umfassendes Sozialsystem immer nur einen Ausschnitt der gesamten menschlichen Handlungswirklichkeit umfassen.

    In ganz ähnlicher Weise versucht R. DAHRENDORF den Menschen in der G. als Träger sozial vorgeformter Rollen zu erfassen [42]. So gesehen heißt G., «daß menschliches Verhalten nicht den Gesetzen der Zufallswahrscheinlichkeit folgt, sondern durch Normen geregelt erscheint» [43]. Das bedeutet, daß die Menschen in bestimmten Positionen, die durch Erwartungen an das Verhalten der Beteiligten geregelt sind (Rollenerwartungen), am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Gegen eine Verabsolutierung dieser Betrachtungsweise ist jedoch einzuwenden, daß das Konzept eines totalen «homo sociologicus» (wie das des totalen «homo oeconomicus») die Gefahr eines Menschenbildes in sich birgt, in dem die Freiheit des Menschen verloren geht. Tatsächlich schließen jedoch gewisse Normen und bestimmte Rollen menschliche Freiheit nicht aus. Eine ausschließlich von Normen und Rollen bestimmte G. ist genau so wenig vorstellbar wie eine G., in der «alles erlaubt» ist. Mit einer solchen «permissive society» – eine späte Nachwirkung des Naturbegriffs von Rousseau – wird die Möglichkeit einer Rückkehr zu einem normen- und rollenfreien «Naturzustand» vorgegaukelt, in dem die menschliche Freiheit wiederhergestellt werden kann – eine Fiktion, die sich kaum je verwirklichen lassen dürfte.

 

    Anmerkungen.

 

[1] L. v. WIESE: Soziol. (61960) 12.

 

[2] L. GUMPLOWICZ: Der Rassenkampf (1883).

 

[3] J. H. FICHTER: Grundbegriffe der Soziol., hg. E. BODZENTA (Wien/New York 1968) 83.

 

[4] ZEDLERS Universallex. 10 (1735) 1260.

 

[5] FICHTER, a.a.O. [3] 89ff.

 

[6] E. M. WALLNER: Soziol. (1970) 17.

 

[7] T. GEIGER: Art. ‹G.›, in: Handwb. der Soziol., hg. A. VIERKANDT (1931, ND 1959) 202; vgl. Grimm IV/1, 2 (1897) 4049–61.

 

[8] F. FÜRSTENBERG: Was heißt G.? was heißt Soziol.? in: E. BODZENTA (Hg.): Soziol. und Soziologiestudium (WienNew York 1966) 7.

 

[9] CHR. WOLFF: Vernünftige Gedanken vom gesellschaftl. Leben der Menschen (41736) 3.

 

[10] Vgl. F. SCHALK, Dtsch. Vjschr. Lit.wiss. 25 (1951) 387ff. im Gegensatz zu E. LERCH: G. und Gemeinschaft a.a.O. 19 (1944) 106ff.; M. RIEDEL: Zur Topol. des klassisch-politischen und des modern-naturrechtlichen G.-Begriffs. Arch. Rechts- u. Sozialphilos. 51 (1965) 291–318.

 

[11] RIEDEL, a.a.O. 296.

 

[12] H. SCHOECK: Die Soziol. und die G. (1964) 107f.

 

[13] A. FERGUSON: Essay on the hist. of civil society (1767).

 

[14] R. KÖNIG, in: Wb. der Soziol., hg. W. BERNSDORF (1969) 356.

 

[15] G. W. F. HEGEL, Grundl. der Philos. des Rechts. Werke, hg. GLOCKNER 7, 262.

 

[16] H. v. TREITSCHKE: Die G.-Wiss. (1927) 79f.

 

[17] F. TÖNNIES: Gemeinschaft und G. (1887).

 

[18] W. H. RIEHL: Die bürgerliche G. (1851).

 

[19] Wb. der marxistisch-leninistischen Soziol., hg. I. W. EICHHORN (1969) 145.

 

[20] Vgl. Sowjetsystem und demokratische G. 2 (1968) 963–966.

 

[21] K. MARX und FR. ENGELS: Manifest der Kommunistischen Partei (1848). MEW 4, 462.

 

[22] W. I. LENIN, Werke 1 (1961) 127.

 

[23] K. MARX: Das Kapital 1 (1867). MEW 23, 15.

 

[24] LENIN, a.a.O. [22] 131.

 

[25] Vgl. G. Kiss: Gibt es eine ‹marxistische› Soziol.? (1966).

 

[26] v. WIESE, a.a.O. [1] 19.

 

[27] 14.

 

[28] 147.

 

[29] 149.

 

[30] 12.

 

[31] G. EISERMANN (Hg.): Die Lehre von der G. (21969) 66.

 

[32] WALLNER, a.a.O. [6] 17.

 

[33] R. KÖNIG (Hg.): Fischer-Lex. Soziol. (1967) 106.

 

[34] FICHTER, a.a.O. [3] 85.

 

[35] P. A. SOROKIN: Society, culture, and personality (1947).

 

[36] G. SIMMEL: Soziol. (1908, 51968).

 

[37] G. TARDE: Les lois de l'imitation (1890).

 

[38] KÖNIG, a.a.O. [33] 111.

 

[39] v. WIESE, a.a.O. [1] 91f.

 

[40] R. WORMS: Organisme et société (1896).

 

[41] H. v. HENTIG: Bildung. Die Grundlage unserer Zukunft

 

(1968) 209.

 

[42] R. DAHRENDORF: Homo Sociologicus (71968).

 

[43] R. DAHRENDORF, in: Wb. der Soziol., hg. W. BERNSDORF (1969) 902.

 

    Literaturhinweise. M. GINSBERG: The psychol. of society (London 1921). – P. VOGEL: Hegels G.-Begriff und seine gesch. Fortbildung durch Lorenz Stein, Marx, Engels und Lasalle (1925). – B. LANDHEER: Der G.- und Staatsbegriff Platons (Rotterdam 1929). – R. THURNWALD: Die menschl. G. in ihren ethnosoziol. Grundlagen 1–5 (1931–35). – K. MANNHEIM: Mensch und G. im Zeitalter des Umbruchs (Leiden 1935). – O. ERB: Wirtschaft und G. im Denken der hellenistischen Antike (1939). – K. A. FISCHER: Kultur und Gesellung (1951). – H. KELSEN: Society and nature (Chicago 1943). – J. MARION LEVY jr.: The structure of society (Princeton 1952). – T. PARSONS (Hg.): Theories of society 1. 2 (Glencoe, 111. 1952); Structure and process in modern societies (New York 1960); The social system (New York 1961). – H. PLESSNER: Zwischen Philos. und G. (1953). – J. T. SANDERS (Hg.): Societies around the world (New York 1953). – A. v. MARTIN: Soziol. (1956); Mensch u. G. heute (1965); Art. ‹G.›, in: Staatslex. 3 (61959). – T. GEIGER: Die G. zwischen Pathos u. Nüchternheit (Kopenhagen 1960). – R. DAHRENDORF: G. u. Freiheit (1961). – H. FREYER: Theorie des gegenwärt. Zeitalters (1955). – R. ARON: Die industr. G. (1964). – H. SCHOECK: Die Soziol. u. die G.en (1964). – M. WEBER: Wirtschaft u. G., hg. J. WINCKELMANN 1. 2 (1964); Soziol. Grundbegr. (21966). – D. AMBROS: Art. ‹G.›, in: Handwb. der Sozialwiss. 4 (1965) 427–433 (mit Lit.). – D. MCCLELLAND: Die Leistungs-G. (1966). – L. v. WIESE: System der allg. Soziol. als Lehre von den sozialen Prozessen und den sozialen Gebilden der Menschen (Beziehungslehre) (41966); Soziologie und moderne G. Verh. 14. dtsch. Soziologentag (21966). – J. E. BERGMANN: Talcott Parsons Theorie des sozialen Systems (1967). – W. E. MOORE: Strukturwandel der G. (1967). – F. JONAS: Gesch. der Soziol. 1–4 (1968f.). – L. H. MAYHEW: Art. ‹Society›, in: Encyclop. social sci. 14 (New York 1968) 577–585 (mit Lit.). – J. WOESSNER: Soziol. (1970). – E. FORSTHOFF: Der Staat der Industrie-G., dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik (1971). – A. BELLEBAUM: Soziol. Grundbegriffe (1972).

 

Peter Kaupp, Gesellschaft, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3: G–H, Hrsg. von Joachim Ritter, Basel 1974, S. 459-466.


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