Th.W. Adorno

Reflexionen zur Klassentheorie (VII)

Sur l´eau 2008. 8. 26. 18:00

Reflexionen zur Klassentheorie (VII)

 

Die Stelle der marxistischen Klassenlehre, die der apologetischen Kritik am offensten sich darbietet, scheint die Verelendungstheorie. Das gemeinsame Elend macht die Proletarier zur Klasse. Es folgt als Konsequenz aus ihrer Stellung im Produktionsprozeß der kapitalistischen Wirtschaft und wächst mit dem Prozeß ins Unerträgliche an. So wird Elend selber zur Kraft der Revolution, die das Elend überwinden soll. Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten und alles zu gewinnen: die Wahl soll ihnen nicht schwer werden, und die bürgerliche Demokratie ist soweit progressiv wie sie den Spielraum zur Klassenorganisation gewährt, deren numerisches Gewicht den Umsturz herbeiführt. Dagegen läßt sich alle Statistik ins Feld führen. Die Proletarier haben mehr zu verlieren als ihre Ketten. Ihr Lebensstandard hat sich gegen die englischen Zustände vor hundert Jahren, wie sie den Autoren des Manifests vor Augen standen, nicht verschlechtert sondern verbessert. Kürzere Arbeitszeit, bessere Nahrung, Wohnung und Kleidung, Schutz der Familienangehörigen und des eigenen Alters, durchschnittlich höhere Lebensdauer sind mit der Entwicklung der technischen Produktivkräfte den Arbeitern zugefallen. Keine Rede kann davon sein, daß Hunger sie zum bedingungslosen Zusammenschluß und zur Revolution nötigte. Dafür ist die Möglichkeit von Zusammenschluß und Massenrevolution selber fragwürdig geworden. Der Einzelne gedeiht besser in der Interessenorganisation als in der gegens Interesse, die Konzentration technisch-militärischer Machtmittel auf der Unternehmerseite ist so formidabel, daß sie die Erhebung alten Stils vorweg ins allgemein tolerierte Bereich heroischer Erinnerung verweist, und daß die bürgerliche Demokratie dort, wo ihre Fassade noch existiert, die Bildung einer Massenpartei zuließe, die an die Revolution denkt, von der sie redet, ist ganz unwahrscheinlich. So zerfällt die überlieferte Konstruktion von der Verelendung. Sie mit dem Hilfsbegriff der relativen Verelendung zu flicken, wie man es zur Zeit des Revisionismusstreits versuchte, konnte nur sozialdemokratischen Gegenapologeten beikommen, deren Ohren vom eigenen Geschrei schon so stumpf geworden waren, daß sie nicht einmal den Hohn mehr vernahmen, der aus dem Ausdruck relative Verelendung ihrer Mühe entgegenschallt. Notwendig ist die Erwägung des Begriffs Verelendung selbst, nicht die sophistische Modifikation seines Geltungsbereichs. Er ist aber ein strikt ökonomischer Begriff, definiert durch das absolute Akkumulationsgesetz. Reservearmee, Übervölkerung, Pauperismus wachsen proportional mit dem »funktionierenden Kapital«3 und drücken zugleich den Arbeitslohn herab. Die Verelendung ist die Negativität des freien Spiels der Kräfte im liberalen System, dessen Begriff die Marxische Analyse ad absurdum führt: mit dem gesellschaftlichen Reichtum nimmt unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen vermöge des immanenten Systemzwangs die gesellschaftliche Armut zu. Vorausgesetzt ist der ungestörte, autonome Ablauf des Wirtschaftsmechanismus, wie die liberale Theorie ihn postuliert: die Geschlossenheit des je zu analysierenden tableau économique. Alles andere wird den modifizierenden »Umständen« zugezählt, »deren Analyse nicht hierher gehört«4. Damit aber zeigt sich die Verelendungstheorie selber als abhängig vom Doppelcharakter der Klasse, der Differenz vermittelter und unmittelbarer Repression, die ihr Begriff enthält. Es gibt soweit Verelendung, wie die bürgerliche Klasse wirklich anonyme und bewußtlose Klasse ist, wie sie und das Proletariat vom System beherrscht werden. Im Sinne der rein ökonomischen Notwendigkeit vollzieht die Verelendung sich absolut: wäre der Liberalismus wirklich der Liberalismus, als den Marx ihn beim Wort nimmt, so bestünde schon in der friedlichen Welt der Pauperismus, der heute in den kriegerisch unterjochten Ländern offenbar wird. Aber die herrschende Klasse wird nicht nur vom System beherrscht, sie herrscht durchs System und beherrscht es schließlich selber. Die modifizierenden Umstände stehen extraterritorial zum System der politischen Ökonomie, aber zentral in der Geschichte der Herrschaft. Im Prozeß der Liquidation der Ökonomie sind sie keine Modifikationen sondern selber das Wesen. Soweit betreffen sie die Verelendung: sie darf nicht in Erscheinung treten, um nicht das System zu sprengen. In seiner Blindheit ist das System dynamisch und akkumuliert das Elend, aber die Selbsterhaltung, die es durch solche Dynamik leistet, terminiert auch dem Elend gegenüber in jener Statik, die von je den Orgelpunkt der vorgeschichtlichen Dynamik abgibt. Je weniger die Aneignung fremder Arbeit unterm Monopol mehr durch die Marktgesetze sich vollzieht, um so weniger auch die Reproduktion der Gesamtgesellschaft. Die Verelendungstheorie impliziert unmittelbar Marktkategorien in Gestalt der Konkurrenz der Arbeiter, durch die der Preis der Ware Arbeitskraft fällt, während diese Konkurrenz mit allem was sie bedeutet so fraglich geworden ist wie die der Kapitalisten. Die Dynamik des Elends wird mit der der Akkumulation stillgelegt. Die Verbesserung der ökonomischen Lage drunten oder deren Stabilisierung ist außerökonomisch: der höhere Standard wird aus Einkommen oder Monopolprofiten bezahlt, nicht aus v. Er ist Arbeitslosenunterstützung auch wo diese nicht deklariert ist, ja wo der Schein von Arbeit und Lohn dicht fortbesteht: Zugabe, Trinkgeld im Sinne der Herrschenden. Guter Wille und Psychologie haben nichts damit zu tun. Die ratio solchen Fortschritts ist das Selbstbewußtsein des Systems von den Bedingungen seiner Perpetuierung, nicht jedoch die bewußtlose Mathematik der Schemata. Die Prognose von Marx ist auf ungeahnte Weise verifiziert: die herrschende Klasse wird so gründlich von fremder Arbeit ernährt, daß sie ihr Schicksal, die Arbeiter ernähren zu müssen, entschlossen zur eigenen Sache macht und dem »Sklaven die Existenz innerhalb seiner Sklaverei« sichert, um die eigene zu befestigen. Im Anfang mochte der Druck der Massen, die potentielle Revolution die Umkehr bewirken. Später, mit der Verstärkung der Macht der monopolistischen Zentralstellen, wird man die Lage der arbeitenden Klassen mehr stets mit der Aussicht auf Vorteile jenseits der eigenen geschlossen definierten Wirtschaftssysteme - nicht unmittelbar durch Kolonialprofite - verbessert haben. Die endgültige Etablierung der Macht ist in alle Posten des Kalküls eingerechnet. Der Schauplatz des kryptogamen, gleichsam zensurierten Elends aber ist die politische und gesellschaftliche Ohnmacht. Sie macht alle Menschen derart zu bloßen Verwaltungsobjekten der Monopole und ihrer Staaten, wie es zur Zeit des Liberalismus nur jene paupers waren, die man in der Hochzivilisation hat aussterben lassen. Diese Ohnmacht erlaubt die Führung des Krieges in allen Ländern. Wie er die faux frais der Machtapparatur nachträglich als profitbringende Investition bestätigt, so löst er den Kredit des Elends ein, das die herrschenden Cliquen klug vertagten, während ihre Klugheit doch am Elend die unverrückbare Grenze hat. Nur ihr Sturz, nicht die wie immer verschleierte Manipulation wird das Elend stürzen.

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