Th.W. Adorno

Reflexionen zur Klassentheorie (IV)

Sur l´eau 2008. 8. 26. 17:53

Reflexionen zur Klassentheorie (IV)

 

Das macht es notwendig, den Begriff Klasse selber so nah zu betrachten, daß er festgehalten wird und verändert zugleich. Festgehalten: weil sein Grund, die Teilung der Gesellschaft in Ausbeuter und Ausgebeutete, nicht bloß ungemindert fortbesteht sondern an Zwang und Festigkeit zunimmt. Verändert: weil die Unterdrückten, heute nach der Voraussage der Theorie die übergroße Mehrheit der Menschen, sich selber nicht als Klasse erfahren können. Diejenigen unter ihnen, welche den Namen reklamieren, meinen zumeist ihr partikulares Interesse im Bestehenden, etwa so wie die industriellen Spitzen den Begriff »Produktion« verwenden. Der Unterschied von Ausbeutern und Ausgebeuteten tritt nicht so in Erscheinung, daß er den Ausgebeuteten Solidarität als ihre ultima ratio vor Augen stellte: Konformität ist ihnen rationaler. Die Zugehörigkeit zur gleichen Klasse setzt längst nicht in Gleichheit des Interesses und der Aktion sich um. Nicht erst bei der Arbeiteraristokratie sondern im egalitären Charakter der Bürgerklasse selber ist das widersprechende Moment des Klassenbegriffs aufzusuchen, das verhängnisvoll heute hervortritt. Bedeutet die Kritik der politischen Ökonomie die des Kapitalismus, so ist der Begriff der Klasse, ihr Zentrum, selbst nach dem Modell der Bourgeoisie gebildet. Diese ist, als anonyme Einheit der Eigentümer von Produktionsmitteln und ihres Anhangs, die Klasse schlechthin. Aber der egalitäre Charakter, der sie dazu macht, wird selbst von der Kritik der politischen Ökonomie aufgelöst, nicht bloß im Verhältnis zum Proletariat sondern auch als Bestimmung der Bourgeoisie als solcher. Die freie Konkurrenz der Kapitalisten unter einander impliziert schon das gleiche Unrecht, das sie vereint den Lohnarbeitern antun, die sie nicht erst als ihnen tauschend Gegenübertretende exploitieren, vielmehr zugleich durchs System produzieren. Gleiches Recht und gleiche Chance der Konkurrierenden ist weithin fiktiv. Ihr Erfolg hängt ab von der - außerhalb des Konkurrenzmechanismus gebildeten - Kapitalkraft, mit der sie in die Konkurrenz eintreten, von der politischen und gesellschaftlichen Macht, die sie repräsentieren, von altem und neuem Conquistadorenraub, von der Affiliation mit dem feudalen Besitz, den die Konkurrenzwirtschaft nie ernstlich liquidiert hat, vom Verhältnis zum unmittelbaren Herrschaftsapparat des Militärs. Die Interessengleichheit reduziert sich auf die Partizipation an der Beute der Großen, die gewährt wird, wenn alle Eigentümer den Großen das Prinzip souveränen Eigentums zugestehen, das jenen ihre Macht und deren erweiterte Reproduktion garantiert: die Klasse als ganze muß zur äußersten Hingabe ans Prinzip des Eigentums bereit sein, das sich real vorab aufs Eigentum der Großen bezieht. Das bürgerliche Klassenbewußtsein zielt auf den Schutz von oben, das Zugeständnis, das die eigentlich herrschenden Eigentümer denen machen, die ihnen mit Leib und Seele sich verschreiben. Die bürgerliche Toleranz will toleriert werden. Sie meint nicht die Gerechtigkeit gegen die drunten, selbst die in der eigenen Klasse nicht, welche die oben vermöge der »objektiven Tendenz« verdammen, und das Gesetz des Äquivalententauschs und seiner rechtlichen und politischen Reflexionsformen ist der Vertrag, der die Beziehung zwischen dem Kern der Klasse und deren Mehrheit, den bürgerlichen Lehensleuten, stillschweigend im Sinne von Machtverhältnissen regelt. Mit anderen Worten, so real die Klasse ist, so sehr ist sie selber schon Ideologie. Wenn die Theorie erweist, daß es mit dem gerechten Tausch, der bürgerlichen Freiheit und Humanität fragwürdig bestellt ist, so fällt Licht damit auf den Doppelcharakter der Klasse. Er besteht darin, daß ihre formale Gleichheit die Funktion sowohl der Unterdrückung der anderen Klasse hat wie die der Kontrolle der eigenen durch die Stärksten. Sie wird von der Theorie als Einheit, als Klasse gegen das Proletariat gebrandmarkt, um das Gesamtinteresse, das sie vertritt, in seiner Partikularität bloßzustellen. Aber diese partikulare Einheit ist notwendig Nichteinheit in sich selber. Die egalitäre Form der Klasse dient als Instrument dem Privileg der Herrschenden über den Anhang, das sie zugleich verdeckt. Die Kritik der liberalen Gesellschaft kann vor dem Klassenbegriff nicht Halt machen, der so wahr und unwahr ist wie das System des Liberalismus. Seine Wahrheit ist die kritische: er designiert die Einheit, in der sich die Partikularität des bürgerlichen Interesses verwirklicht. Seine Unwahrheit liegt in der Nichteinheit der Klasse. Ihre immanente Bestimmung durch Herrschaftsverhältnisse ist der Tribut, den sie an die eigene Partikularität zu entrichten hat, der ihre Einheit zugute kommt. Vor ihrer realen Nichteinheit wird noch die ebenso reale Einheit zum Schleier.

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