Th.W. Adorno

Reflexionen zur Klassentheorie (VI)

Sur l´eau 2008. 8. 26. 17:58

Reflexionen zur Klassentheorie (VI)

 

Marx ist über der Ausführung der Klassentheorie gestorben, und die Arbeiterbewegung hat sie auf sich beruhen lassen. Sie war nicht nur das wirksamste Agitationsmittel sondern reichte im Zeitalter der bürgerlichen Demokratie, der proletarischen Massenpartei und der Streiks, vorm offenen Sieg des Monopols und vor der Entfaltung der Arbeitslosigkeit zur zweiten Natur, an den Konflikt heran. Nur die Reformisten haben sich auf die Klassenfrage diskutierend eingelassen, um mit der Leugnung des Kampfes, der statistischen Würdigung der Mittelschichten und dem Lob des umspannenden Fortschritts den beginnenden Verrat zu bemänteln. Die verlogene Leugnung der Klassen bewog die verantwortlichen Träger der Theorie, den Klassenbegriff selber als Lehrstück zu hüten, ohne ihn weiterzutreiben. Damit hat die Theorie sich Blößen gegeben, die Mitschuld tragen am Verderb der Praxis. Die bürgerliche Soziologie aller Länder hat sie sich weidlich zunutze gemacht. War sie insgesamt durch Marx wie durch eine Magnetnadel abgelenkt und apologetisch geworden, je mehr sie sich auf die Wertfreiheit versteifte, so konnte ihr Positivismus, die wahre Einschmiegung ins Faktische, dort den Lohn ihrer Mühen einkassieren, wo die Fakten der verkümmerten Theorie Unrecht gaben, die als Glaubensartikel selber auf die Aussage über Faktisches heruntergekommen war. Der Nominalismus der Forschung, der das Wesentliche, das Klassenverhältnis als Idealtyp in die Methodologie verbannte und die Realität jenem Einmaligen überließ, das sie bloß garniert, fand sich mit Analysen zusammen, die die Klasse - etwa in ihrem spezifischen politischen Äquivalent, der Partei - jener oligarchischen Züge überführten, welche die Theorie vernachlässigte oder als Anhang »Monopolkapitalismus« verdrossen berücksichtigte. Je gründlicher man dabei die Fakten vom konkreten Begriff, ihrer Beziehung auf den aktuellen Stand des Ausbeutungssystems, reinigte, die allem Faktischen bestimmend innewohnt, um so besser paßten sie in den abstrakten Begriff, die alle Epochen umfassende Merkmaleinheit hinein, die als von den Fakten bloß abgezogene über diese nichts mehr vermag. Oligarchie, Ideologie, Integration, Arbeitsteilung werden aus Momenten der Herrschaftsgeschichte, deren dunklen Wald man vor den grünen Bäumen des eigenen Lebens nicht mehr sieht, zu generellen Kategorien der Vergesellschaftung der Menschen. Die Skepsis gegen die angebliche Klassenmetaphysik wird normativ im Zeichen der formalen Soziologie: Klassen gibt es nicht wegen der unbeugsamen Tatsachen; deren Unbeugsamkeit aber substituiert die Klasse, und da der soziologische Blick, wo er die Steine der Klassen sucht, immer nur das Brot der Eliten findet und tagtäglich erfährt, daß es ohne Ideologie schlechterdings nicht abgeht, so ist es schon das gescheiteste, bei den Formen der Vergesellschaftung es zu belassen und womöglich blutenden Herzens die Sache der unvermeidlichen Elite zur eigenen Ideologie zu machen. Gegen das phantasma bene fundatum sich auf Gegenbeispiele berufen, den oligarchischen Charakter der Massenpartei abstreiten, verkennen, daß die Theorie im Munde ihrer Funktionäre wirklich zur Ideologie geworden ist, wäre pure Ohnmacht und trüge bloß den Geist der Apologetik in die Theorie, gegen welche die bürgerlichen Apologeten ihr Netz gesponnen haben. Nichts hilft als die Wahrheit aus den soziologischen Begriffen gegen die Unwahrheit wenden, die sie produzierte. Was die Soziologie gegen die Realität der Klassen vorbringt, ist nichts anderes als das Prinzip der Klassengesellschaft: die Allgemeinheit der Vergesellschaftung ist die Form, unter der Herrschaft historisch sich durchsetzt. Die abstrakte Einheit selber, in deren Herstellung aus blinden Fakten die Soziologie ihr Trugbild des Klassenlosen vollendet meint, ist die Disqualifizierung der Menschen zu Objekten, die von Herrschaft bewirkt wird und heute auch die Klassen ergriffen hat. Die soziologische Neutralität wiederholt die soziale Gewalttat, und die blinden Fakten, hinter die sie sich verschanzt, sind die Trümmer, in welche die Welt von der Ordnung geschlagen ward, mit der die Soziologen sich vertragen. Die generellen Gesetze besagen nichts gegen die gesetzlose Zukunft, weil ihre Allgemeinheit selber die logische Form der Repression ist, die abgeschafft werden muß, damit die Menschheit nicht in die Barbarei zurückfällt, aus der sie noch gar nicht herauskam. Daß Demokratie Oligarchie ist, liegt nicht an den Menschen, die nach Ansicht und Interesse ihrer reifen Führer zur Demokratie nicht reif sein sollen, sondern an der Unmenschlichkeit, die das Privileg in die objektive Notwendigkeit der Geschichte eingräbt. Indem aus der Dialektik der Klasse am Ende die nackte Cliquenherrschaft sich erhebt, wird die Soziologie erledigt, die das immer schon gemeint hat. Ihre formalen Invarianten erweisen sich als Voraussagen über jüngste materiale Tendenzen. Die Theorie, die an der Lage heute lernt, die Banden in den Klassen zu identifizieren, ist die Parodie auf die formale Soziologie, welche die Klassen leugnet, um die Banden zu verewigen.