Th.W. Adorno

Reflexionen zur Klassentheorie (IX)

Sur l´eau 2008. 8. 26. 18:06

Reflexionen zur Klassentheorie (IX)

 

Die gesellschaftliche Ohnmacht des Proletariats, in der die auseinanderweisenden Tendenzen ökonomischer Verelendung und extra-ökonomischer Besserung des Lebensstandards resultieren, ist als solche von der Theorie nicht vorausgesagt worden. Der überwiegenden Einsicht in die erste Tendenz entspricht jene Erwartung, daß der Druck der Armut unmittelbar zur Kraft gegen die Unterdrücker wird. Aber der Gedanke an die Ohnmacht ist doch der Theorie nicht fremd. Er erscheint unter dem Namen der Entmenschlichung. Wie die Industrie ihre Opfer an physisch Verstümmelten, Erkrankten, Deformierten fordert, droht sie das Bewußtsein zu deformieren. Der Brutalisierung der Arbeiter, die zwangshaft was ihnen angetan ward den von ihnen Abhängigen nochmals antun, und ihrer wachsenden Entfremdung vom mechanisierten Arbeitsprozeß, den sie nicht mehr verstehen können, geschieht ausdrücklich Erwähnung. Die Frage, wie die so Bestimmten zur Aktion fähig sein sollen, welche doch nicht bloß Klugheit, Überblick und Geistesgegenwart, sondern die Fähigkeit zur äußersten Selbstaufopferung verlangt, wird nicht erhoben. Die Gefahr des Psychologismus - der Autor einer »Psychologie des Sozialismus« ist nicht zufällig am Ende Faschist geworden wie der Soziologe des Parteiwesens - ist im Ursprung abgewandt, längst ehe die bürgerliche Philosophie verbissen sich daran machte, ihre Objektivität in der Erkenntnissphäre zu verteidigen. Marx hat sich auf die Psychologie der Arbeiterklasse nicht eingelassen. Sie setzt Individualität, eine Art Autarkie der Motivationszusammenhänge im Einzelnen voraus. Solche Individualität ist selber ein gesellschaftlich produzierter Begriff, der unter die Kritik der politischen Ökonomie fällt. Schon unter den konkurrierenden Bürgern ist das Individuum weithin Ideologie, und denen drunten wird Individualität versagt durch die Ordnung des Eigentums. Nichts anderes kann Entmenschlichung heißen. Die Gegenüberstellung mit dem Proletariat desavouiert den bürgerlichen Begriff des Menschen so wie die Begriffe der bürgerlichen Ökonomie. Er wird festgehalten bloß, um in seinem eigenen Widerspruch exponiert zu werden, nicht aber von einer marxistischen »Anthropologie« bestätigt. Mit der Autonomie der Marktwirtschaft und der an ihr gebildeten bürgerlichen Individualität ist auch ihr Gegenteil, die blutige Entmenschlichung des von der Gesellschaft Verstoßenen, vergangen. Die Figur des Arbeiters, der in der Nacht betrunken nach Hause kommt und die Familie verprügelt, ist an den äußersten Rand gedrängt: seine Frau hat mehr als ihn den social worker zu fürchten, der sie berät. Von einer Verdummung des Proletariers, der den eigenen Arbeitsprozeß nicht mehr begriffe, kann gar keine Rede sein. Die höchstgesteigerte Arbeitsteilung hat zwar den Arbeiter dem zusammengesetzten Endprodukt, wie es dem Handwerker vertraut war, immer ferner gerückt, zugleich aber die einzelnen Arbeitsvorgänge in ihrer Disqualifikation einander immer mehr angenähert, so daß, wer eines kann, virtuell alles kann und das Ganze versteht. Der Mann am laufenden Band bei Ford, der immer denselben Handgriff machen muß, weiß doch mit dem fertigen Wagen sehr wohl Bescheid, der kein Geheimnis enthält, das nicht nach dem Muster jenes Handgriffs vorzustellen wäre. Selbst der Unterschied zwischen dem Arbeiter und dem Ingenieur, dessen Arbeit selber mechanisiert ist, dürfte nachgerade aufs bloße Privileg hinauslaufen; unterm Bedarf des Krieges an technischen Spezialisten zeigt sich, wie flexibel die Differenzen, wie wenig die Spezialisten mehr welche sind. An der Ohnmacht aber ändert das zunächst so wenig wie zuvor das nackte Elend in die Revolution umschlug. Die hellen Mechaniker von heute sind so wenig Individuen geworden wie die dumpfen Insassen der working houses vor hundert Jahren es waren, und freilich ist unwahrscheinlich, daß ihre Individualität die Revolution beschleunigte. Der Arbeitsprozeß indessen, den sie verstehen, modelt sie noch gründlicher als der unverstandene von dazumal: er wird zum »technologischen Schleier«. Am Doppelcharakter der Klasse haben sie ihren Anteil. Hat das System der Entmenschlichung Einhalt geboten, die die Herrschenden gefährdet, bis diese sie für die eigene Unmenschlichkeit einspannen, so ist dafür die Einsicht von Marx, daß das System das Proletariat produziere, zu einem Maße eingelöst worden, das schlechterdings nicht abzusehen war. Die Menschen sind, vermöge ihrer Bedürfnisse und der allgegenwärtigen Anforderungen des Systems, wahrhaft zu dessen Produkten geworden: als ihre eigene erfassende Verdinglichung, nicht als unerfaßte Roheit vollendet unterm Monopol die Entmenschlichung sich an den Zivilisierten, ja sie fällt mit ihrer Zivilisation zusammen. Die Totalität der Gesellschaft bewährt sich daran, daß sie ihre Mitglieder nicht nur mit Haut und Haaren beschlagnahmt, sondern nach ihrem Ebenbild erschafft. Darauf ist es in letzter Instanz mit der Polarisation der Spannung in Macht und Ohnmacht abgesehen. Nur denen die wie es sind zahlt das Monopol die Zuwendungen, auf denen heute die Stabilität der Gesellschaft beruht. Dies sich Gleichmachen, Zivilisieren, Einfügen verbraucht all die Energie, die es anders machen könnte, bis aus der bedingten Allmenschlichkeit die Barbarei hervortritt, die sie ist. Indem die Herrschenden planvoll das Leben der Gesellschaft reproduzieren, reproduzieren sie eben dadurch die Ohnmacht der Geplanten. Herrschaft wandert in die Menschen ein. Sie müssen nicht, wie Liberale kraft ihrer Marktvorstellungen zu denken geneigt sind, »beeinflußt« werden. Die Massenkultur macht sie bloß immer nochmals so, wie sie unterm Systemzwang ohnehin schon sind, kontrolliert die Lücken, fügt noch den offiziellen Widerpart der Praxis als public moral dieser ein, stellt ihnen Modelle zur Imitation bereit. Einfluß auf Andersgeartete ist den Filmen nicht zuzutrauen, denen schon die Gleichgearteten nicht ganz glauben: mit den Resten der Autonomie vergehen auch die der Ideologien, die zwischen Autonomie und Herrschaft vermittelten. Entmenschlichung ist keine Macht von außen, keine wie immer geartete Propaganda, kein Ausgeschlossensein von Kultur. Sie ist gerade die Immanenz der Unterdrückten im System, die einmal wenigstens durch Elend herausfielen, während heute ihr Elend ist, daß sie nicht mehr herauskönnen, daß ihnen die Wahrheit als Propaganda verdächtig ist, während sie die Propagandakultur annehmen, die fetischisiert in den Wahnsinn der unendlichen Spiegelung ihrer selbst sich verkehrt. Damit aber ist die Entmenschlichung zugleich ihr Gegenteil. An den verdinglichten Menschen hat Verdinglichung ihre Grenze. Sie holen die technischen Produktivkräfte ein, in denen die Produktionsverhältnisse sich verstecken: so verlieren diese durch die Totalität der Entfremdung den Schrecken ihrer Fremdheit und bald vielleicht auch ihre Macht. Erst wenn die Opfer die Züge der herrschenden Zivilisation ganz annehmen, sind sie fähig, diese der Herrschaft zu entreißen. Was an Differenz übrig ist, reduziert sich auf die nackte Usurpation. Nur in ihrer blinden Anonymität erschien die Ökonomie als Schicksal: durchs Entsetzen der sehenden Diktatur wird ihr Bann gebrochen. Die Pseudomorphose der Klassengesellschaft an die klassenlose ist so gelungen, daß zwar die Unterdrückten aufgesaugt sind, alle Unterdrückung aber manifest überflüssig geworden ist. Ganz schwach ist der alte Mythos in seiner jüngsten Allmacht. War die Dynamik immer das Gleiche, so ist ihr Ende heute nicht das Ende.

1942

Th.W. Adorno, „Reflexionen zur Klassentheorie“, in: ders., Soziologische Schriften I, Gesammelte Schriften Bd. 8, Hrsg., von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1972, S. 373-391.

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