Th.W. Adorno

Freizeit (1)

Sur l´eau 2008. 8. 29. 07:43

Freizeit (1)

 

Die Frage nach der Freizeit: was die Menschen mit ihr anfangen, welche Chancen etwa ihre Entwicklung bietet, ist nicht in abstrakter Allgemeinheit zu stellen. Das Wort, übrigens erst jüngeren Ursprungs – früher sagte man Muße, und das war ein Privileg unbeengten Lebens, daher auch dem Inhalt nach wohl etwas qualitativ anderes, Glückvolleres –, weist auf eine spezifische Differenz hin, die von der nicht freien Zeit, von der, welche die Arbeit ausfüllt, und zwar, darf man hinzufügen, die fremdbestimmte. Freizeit ist an ihren Gegensatz gekettet. Dieser Gegensatz, das Verhältnis, in dem sie auftritt, prägt ihr selbst wesentliche Züge ein. Darüber hinaus, weit prinzipieller, wird Freizeit abhängen vom gesellschaftlichen Gesamtzustand. Der aber hält nach wie vor die Menschen unter einem Bann. Weder in ihrer Arbeit noch in ihrem Bewußtsein verfügen sie wirklich frei über sich selbst. Sogar jene konzilianten Soziologien, die den Rollenbegriff als Schlüssel verwenden, erkennen das insofern an, als der dem Theater entlehnte Rollenbegriff darauf hindeutet, daß die den Menschen von der Gesellschaft aufgenötigte Existenz nicht identisch ist mit dem, was sie an sich sind oder was sie sein könnten. Freilich wird man keine einfache Teilung zwischen den Men schen an sich und ihren sogenannten sozialen Rollen vornehmen dürfen. Diese reichen in die Eigenschaften der Menschen selber, ihre innere Zusammensetzung tief hinein. Im Zeitalter wahrhaft beispielloser sozialer Integration fällt es schwer, überhaupt auszumachen, was an den Menschen anders wäre als funktionsbestimmt. Das wiegt schwer für die Frage nach der Freizeit. Es besagt nicht weniger, als daß, selbst wo der Bann sich lockert und die Menschen wenigstens subjektiv überzeugt sind, nach eigenem Willen zu handeln, dieser Wille gemodelt ist von eben dem, was sie in den Stunden ohne Arbeit loswerden wollen. Die Frage, welche dem Phänomen der Freizeit heute gerecht würde, wäre wohl die, was aus ihr bei steigender Produktivität der Arbeit, aber unter fortdauernden Bedingungen von Unfreiheit wird, also unter Produktionsverhältnissen, in welche die Menschen hineingeboren werden und die ihnen heute wie ehemals die Regeln ihres Daseins vorschreiben. Schon jetzt ist die Freizeit überaus angewachsen; dank der wirtschaftlich noch keineswegs voll verwerteten Erfindungen in den Bereichen der Atomenergie und der Automation dürfte sie sich immens erhöhen. Suchte man die Frage ohne ideologische Beteuerungen zu beantworten, so ist unabweislich der Verdacht, Freizeit tendiere zum Gegenteil ihres eigenen Begriffs, werde zu dessen Parodie. In ihr verlängert sich Unfreiheit, den meisten der unfreien Menschen so unbewußt wie ihre Unfreiheit selbst.

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