Philo. u. Theo.

Glauben und Wissen (4)

Sur l´eau 2008. 8. 29. 21:58

Glauben und Wissen (4)

Sobald eine existenziell relevante Frage – denken Sie auch an die Gentechnik – auf die politische Agenda gelangt, prallen die Bürger, gläubige wie ungläubige, mit ihren weltanschaulich imprägnierten Überzeugungen aufeinander und erfahren so das anstößige Faktum des weltanschaulichen Pluralismus. Wenn sie mit diesem Faktum im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit gewaltlos umgehen lernen, erkennen sie, was die in der Verfassung festgeschriebenen säkularen Entscheidungsgrundlagen in einer postsäkularen Gesellschaft bedeuten. Im Streit zwischen Wissens- und Glaubensansprüchen präjudiziert nämlich der weltanschaulich neutrale Staat politische Entscheidungen keineswegs zugunsten einer Seite. Die pluralisierte Vernunft des Staatsbürgerpublikums folgt einer Dynamik der Säkularisierung nur insofern, als sie im Ergebnis zur gleichmäßigen Distanz von starken Traditionen und weltanschaulichen Inhalten nötigt. Lernbereit bleibt sie aber, ohne ihre Eigenständigkeit preiszugeben, gleichsam osmotisch nach beiden Seiten, zur Wissenschaft und zur Religion, hin geöffnet.

Natürlich muss sich der Commonsense, der sich über die Welt viele Illusionen macht, von den Wissenschaften vorbehaltlos aufklären lassen. Aber die in die Lebenswelt eindringenden wissenschaftlichen Theorien lassen den Rahmen unseres Alltagswissens im Kern unberührt. Wenn wir über die Welt, und über uns als Wesen in der Welt, etwas Neues lernen, verändert sich der Inhalt unseres Selbstverständnisses. Kopernikus und Darwin haben das geozentrische und das anthropozentrische Weltbild revolutioniert. Dabei hat die Zerstörung der astronomischen Illusion über den Umlauf der Gestirne geringere Spuren in der Lebenswelt hinterlassen als die biologische Desillusionierung über die Stellung des Menschen in der Naturgeschichte. Wissenschaftliche Erkenntnisse scheinen unser Selbstverständnis umso mehr zu beunruhigen, je näher sie uns auf den Leib rücken. Die Hirnforschung belehrt uns über die Physiologie unseres Bewusstseins. Aber verändert sich damit jenes intuitive Bewusstsein von Autorschaft und Zurechnungsfähigkeit, das alle unsere Handlungen begleitet?

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