Th.W. Adorno

Freizeit (5)

Sur l´eau 2008. 8. 29. 07:50

Freizeit (5)

 

   Im Zustand des Dösens kulminiert ein entscheidendes Moment der Freizeit unter den gegenwärtigen Bedingungen: die Langeweile. Unersättlich ist denn auch der hämische Spott über die Wunder, welche Menschen von Ferienreisen und anderen freizeitlichen Ausnahmesituationen sich versprechen, während sie doch, auch hier, aus dem Immergleichen nicht herausgelangen; nicht länger ist es, wie noch für Baudelaires ennui, in weiter Ferne anders. Spott über die Opfer ist  den Mechanismen, welche sie dazu machen, regelmäßig gesellt. Schopenhauer formulierte früh eine Theorie über die Langeweile. Seinem metaphysischen Pessimismus gemäß lehrt er, daß entweder die Menschen an der unerfüllten Begierde ihres blinden Willens leiden oder sich langweilen, sobald sie gestillt ist. Die Theorie beschreibt recht gut, was aus der Freizeit der Menschen unter jenen Bedingungen wird, die Kant solche von Heteronomie würde genannt haben und die man im Neudeutschen Fremdbestimmtheit zu nennen pflegt; auch das hochmütige Wort Schopenhauers von den Menschen als Fabrikware der Natur trifft in seinem Zynismus etwas von dem, wozu die Totalität des Warencharakters die Menschen tatsächlich macht. Der zornige Zynismus läßt ihnen immer noch mehr an Ehre widerfahren als weihevolle Beteuerungen, die Menschen hätten einen unverlierbaren Kern. Trotzdem ist die Schopenhauersche Lehre nicht zu hypostasieren, nicht als schlechthin gültig, womöglich als Urbeschaffenheit der Gattung Mensch zu betrachten. Langeweile ist Funktion des Lebens unterm Zwang zur Arbeit und unter der rigorosen Arbeitsteilung. Sie müßte nicht sein. Wann immer das Verhalten in der freien Zeit wahrhaft autonom, von freien Menschen für sich selbst bestimmt ist, stellt Langeweile schwerlich sich ein; dort ebensowenig, wo sie ihrem Glücksverlangen ohne Versagung folgen, wie dort, wo ihre Tätigkeit in der freien Zeit selbst vernünftig als ein an sich Sinnvolles ist. Noch Blödeln braucht nicht stumpf zu sein, kann selig als Dispens von den Selbstkontrollen genossen werden. Vermöchten die Menschen über sich und ihr Leben zu entscheiden; wären sie nicht ins Immergleiche eingespannt, so müßten sie sich nicht langweilen. Langeweile ist der Reflex auf das objektive Grau. Ähnlich verhält es sich mit ihr wie mit der politischen Apathie. Deren triftigster Grund ist das keineswegs unberechtigte Gefühl der Massen, daß sie durch jene Teilnahme an der Politik, für welche die Gesellschaft ihnen Spielraum gewährt, an ihrem Dasein, und zwar in allen Systemen auf der Erde heute, wenig ändern können. Der Zusammenhang zwischen der Politik und ihren eigenen Interessen ist ihnen undurchsichtig, deshalb weichen sie vor der politischen Aktivität zurück. Eng gehört zur Langeweile das berechtigte oder neurotische Gefühl der Ohnmacht: Langeweile ist objektive Verzweiflung. Zugleich aber auch der Ausdruck von Deformationen, welche die gesellschaftliche Gesamtverfassung den Menschen widerfahren läßt. Die wichtigste ist wohl die Diffamierung der Phantasie und deren Schrumpfung. Phantasie wird ebenso als sexuelle Neugier und Verlangen nach Verbotenem beargwöhnt wie vom Geist einer Wissenschaft, die kein Geist mehr ist. Wer sich anpassen will, muß in steigendem Maß auf Phantasie verzichten. Meist kann er sie, verstümmelt von frühkindlicher Erfahrung, gar nicht erst ausbilden. Die gesellschaftlich eingepflanzte und anbefohlene Phantasielosigkeit macht die Menschen in ihrer Freizeit hilflos. Die unverschämte Frage, was denn das Volk mit der vielen Freizeit anfangen solle, die es nun habe – als ob sie ein Almosen wäre und kein Menschenrecht –, beruht darauf. Daß tatsächlich die Menschen mit ihrer freien Zeit so wenig anfangen können, liegt daran, daß ihnen vorweg schon abgeschnitten ist, was ihnen den Zustand der Freiheit lustvoll machte. So lange wurde er ihnen verweigert und verunglimpft, daß sie ihn schon gar nicht mehr mögen. Der Zerstreuung, wegen deren Flachheit sie vom Kulturkonservativismus begönnert oder geschmäht werden, bedürfen sie, um in der Arbeitszeit die Anspannung aufzubringen, welche die vom Kulturkonservativismus verteidigte Einrichtung der Gesellschaft ihnen abverlangt. Nicht zuletzt dadurch sind sie an ihre Arbeit und an das System gekettet, das sie zur Arbeit dressiert, nachdem es dieser weitgehend bereits nicht mehr bedürfte.

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