Philo. u. Theo.

Glauben und Wissen (8)

Sur l´eau 2008. 8. 29. 22:05

Glauben und Wissen (8)

Aus diesem Grund wollte Kant das kategorische Sollen nicht im Sog des aufgeklärten Selbstinteresses verschwinden lassen. Er hat die Willkürfreiheit zur Autonomie erweitert und damit das erste große Beispiel für eine zwar säkularisierende, aber zugleich rettende Dekonstruktion von Glaubenswahrheiten gegeben. Bei Kant findet die Autorität göttlicher Gebote in der unbedingten Geltung moralischer Pflichten ein unüberhörbares Echo. Mit seinem Begriff der Autonomie zerstört er zwar die traditionelle Vorstellung der Gotteskindschaft. Aber den banalen Folgen einer entleerenden Deflationierung kommt er durch eine kritische Anverwandlung des religiösen Gehaltes zuvor.

Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich Sünde in Schuld verwandelte, ging etwas verloren. Denn mit dem Wunsch nach Verzeihung verbindet sich immer noch der unsentimentale Wunsch, das anderen zugefügte Leid ungeschehen zu machen. Erst recht beunruhigt uns die Unumkehrbarkeit vergangenen Leidens – jenes Unrecht an den unschuldig Misshandelten, Entwürdigten und Ermordeten, das über jedes Maß menschenmöglicher Wiedergutmachung hinausgeht. Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion hinterlässt eine spürbare Leere. Horkheimers berechtigte Skepsis gegen Benjamins überschwängliche Hoffnung auf die wiedergutmachende Kraft humanen Eingedenkens – »Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen« – dementiert ja nicht den ohnmächtigen Impuls, am Unabänderlichen doch noch etwas zu ändern. Der Briefwechsel zwischen Benjamin und Horkheimer stammt aus dem Frühjahr 1937. Beides, der wahre Impuls und dessen Ohnmacht, hat sich nach dem Holocaust in der ebenso notwendigen wie heillosen Praxis einer »Aufarbeitung der Vergangenheit« (Adorno) fortgesetzt. Verstellt äußert sich derselbe Impuls auch noch im anschwellenden Lamento über das Unangemessene dieser Praxis. Die ungläubigen Söhne und Töchter der Moderne scheinen in solchen Augenblicken zu glauben, einander mehr schuldig zu sein und selbst mehr nötig zu haben, als ihnen von der religiösen Tradition in Übersetzung zugänglich ist – so, als seien deren semantische Potenziale noch nicht ausgeschöpft.

Diese Ambivalenz kann auch zu der vernünftigen Einstellung führen, von der Religion Abstand zu halten, ohne sich deren Perspektive aber ganz zu verschließen. Diese Einstellung kann die Selbstaufklärung einer vom Kulturkampf zerrissenen Bürgergesellschaft in die richtige Richtung lenken. Moralische Empfindungen, die bisher nur in religiöser Sprache einen hinreichend differenzierten Ausdruck besitzen, können allgemeine Resonanz finden, sobald sich für ein fast schon Vergessenes, aber implizit Vermisstes eine rettende Formulierung einstellt. Sehr selten gelingt das, aber manchmal. Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich im Modus der Übersetzung. Das ist es, was der Westen als die weltweit säkularisierende Macht aus seiner eigenen Geschichte lernen kann.

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