Th.W. Adorno/Erziehung zur Mündigkeit

교육 - 무엇을 향하여?

Sur l´eau 2009. 2. 5. 06:25

Erziehung - wozu? (1966)

Becker: In der Bundesrepublik wird das Wort Bildungsplanung heute überwiegend in quantitativer Beziehung gebraucht. Mir scheint, daß wir, ausgehend von berechtigten Feststellungen über den Notstand in dieser Hinsicht, der Gefahr erliegen, immer wieder über Zahlen und Bedarf zu sprechen, und dabei übersehen, daß die Bildungsplanung auch eine inhaltliche Planung ist. Es gibt eigentlich überhaupt keine quantitative Planung ohne inhaltliche Aspekte. Jede quantitative Ausweitung unseres Bildungswesens impliziert unmittelbar qualitative Folgen. Das sinnvollste Beispiel bietet die Bildungswerbung, die darauf ausgeht, möglichst viele Menschen auf die höhere Schule zu bringen. Damit wird die höhere Schule auch inhaltlich entscheidend verändert. Von hier erscheint es mir dringend notwendig, die Frage des Was und des Wozu der Bildung in die Diskussion einzubeziehen, nicht um quantitative Erwägungen auszuschalten, sondern um sie in den weiten Zusammenhang zu stellen, dem sie notwendig angehören.

 

Adorno: Nach meiner Kenntnis würden gerade die Statistiker, soweit sie über ihr eigenes Metier nachdenken, darin mit Ihnen sehr einig sein und, wenn ich das vorwegnehmen darf, auch mit mir: sie würden sagen, daß alle quantitativen Erhebungen schließlich einen qualitativen Erkenntniszweck haben. Wenn ich vorgeschlagen habe, daß wir uns unterhalten über “Bildung - wozu?” oder “Erziehung - wozu?”, so sollte das nicht bedeuten zu diskutieren, wozu überhaupt noch Erziehung da oder nötig sei, sondern: wohin soll Erziehung führen? Es sollte also die Frage des Erziehungszieles in einem sehr prinzipiellen Sinn gefaßt werden, und zwar so, daß eine solche generelle Unterhaltung über das Erziehungsziel gegenüber der Diskussion der einzelnen Erziehungsbereiche und Medien den Vorrang hätte.

 

Becker: Ich glaube, daß wir uns darüber ganz einig sind. Das Entscheidende scheint mir zu sein, daß wir in einer Zeit leben, in der sich das Wozu offensichtlich nicht mehr von selbst versteht.

 

Adorno: Genau das ist das Problem, mit dem wir es zu tun haben. Man kennt die kindische Anekdote von dem Tausendfüßler, der gefragt wird, wann er jeden einzelnen seiner tausend Füße bewege, der davon völlig gelähmt wird und überhaupt keinen Schritt mehr machen kann. Etwas ähnlich verhält es sich mit Erziehung und Bildung. Es gab Zeiten, wo diese Begriffe, wie Hegel das genannt hätte, substantiell waren, sich aus dem Ganzen einer Kultur heraus von selbst verstanden, nicht selber problematisch. Das sind sie heute. In dem Augenblick, da man fragt: “Erziehung - wozu?” wo dies “wozu” nicht mehr selbstverständlich, naiv gegenwärtig ist, gerät alles in Unsicherheit und bedarf schwieriger Reflexionen. Man kann vor allem, wenn dieses »wozu« einmal verlorengegangen ist, es nicht einfach durch den Willen restituieren, ein Erziehungsziel von außen aufrichten.

 

Becker: Ich darf dazu sagen, daß mir der Zustand, in dem das Erziehungsziel von selbstverständlicher Gültigkeit war, keineswegs notwendig als der bessere Zustand erscheint. Aber von dieser Differenz muß man zunächst einmal ausgehen. Wir brauchen uns über den Zustand sozusagen vor Verlust der Unschuld nicht zu unterhalten, denn es steht fest, daß sie unwiederbringlich verloren ist. Das Interessante ist, daß nun immer die Forderung auftaucht, die Unschuld wiederherzustellen, eine Forderung, die uns am deutlichsten in der Beschwörung neuer Leitbilder entgegentritt. Georg Picht hat vor einigen Jahren in einem Vortrag “Unterwegs zu neuen Leitbildern” hinter diese ganze Leitbilderideologie zu Recht nicht nur ein Fragezeichen gesetzt, sondern auch deutlich gemacht, daß Erziehung heute nicht mehr Erziehung auf fixierte Leitbilder hin sein kann. Hier hat sich eine entscheidende Wendung in der modernen Pädagogik angekündigt. Ich würde sagen, daß die Erziehung heute viel mehr zum Verhalten in der Welt auszustatten hat, als daß sie uns irgendein vorgegebenes Leitbild zu vermitteln hätte. Denn schon der immer schneller werdende Wechsel der gesellschaftlichen Verhältnisse erfordert von Individuen Eigenschaften, die sich als Befähigung zur Flexibilität, zum mündigen und kritischen Verhalten, bezeichnen lassen.

 

Adorno: Kaum muß ich wiederholen, wie sehr ich mit der Kritik des Begriffs Leitbild übereinstimme. Das Wort gehört genau in die Sphäre des Jargons der Eigentlichkeit, die ich versucht habe, prinzipiell anzugreifen. Ich möchte dabei nur auf ein spezifisches Moment eingehen, das der Heteronomie im Begriff des Leitbildes, das Autoritäre, von außen willkürliche Gesetzte. Ihm eignet etwas Usurpatorisches. Man fragt sich, woher heute irgend jemand das Recht sich nimmt, darüber zu entscheiden, wozu andere erzogen werden sollen. Dieser Denkweise sind die Bindungen - die aus derselben Sprach- und Denk- oder Nichtdenkschicht stammen - im allgemeinen auch nicht weit. Sie stehen in Widerspruch zur Idee eines autonomen, mündigen Menschen, wie Kant sie unübertroffen formuliert in der Forderung, die Menschheit habe sich von ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien.

Ich möchte es danach riskieren, auf einem Beine stehend, zu sagen, was ich mir zunächst unter Erziehung überhaupt vorstelle. Eben nicht sogenannte Menschenformung, weil man kein Recht hat, von außen her Menschen zu formen; nicht aber auch bloße Wissensübermittlung, deren Totes, Dinghaftes oft genug dargetan ward, sondern die Herstellung eines richtigen Bewußtseins. Es wäre zugleich von eminenter politischer Bedeutung; seine Idee ist, wenn man so sagen darf, politisch gefordert. Das heißt: eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen.

Wer innerhalb der Demokratie Erziehungsideale verficht, die gegen Mündigkeit, also gegen die selbständige bewußte Entscheidung jedes einzelnen Menschen, gerichtet sind, der ist antidemokratisch, auch wenn er seine Wunschvorstellungen im formalen Rahmen der Demokratie propagiert. Die Tendenzen, von außen her Ideale zu präsentieren, die nicht aus dem mündigen Bewußtsein selber entspringen, oder besser vielleicht: vor ihm sich ausweisen, diese Tendenzen sind stets noch kollektivistisch-reaktionär. Sie weisen auf eine Sphäre zurück der man nicht nur äußerlich politisch, sondern auch bis in sehr viel tiefere Schichte opponieren sollte.


Becker: Ich stimmte Ihnen völlig zu. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, daß man auch beim Begriff des "mündige Menschen" vorsichtig sein muß, nicht aus ihm ein Leitbild zu machen.

Vielleicht darf ich noch einen Einwand mitvorbringen, den vielleicht mancher Lehrer aus der Praxis hier anmelden würde. E würde Ihnen nämlich sagen: Jugend will kein kritisches Bewußtsein, Jugend will Vorbilder, Jugend will genau das, was Sie hier angegriffen haben, und er würde Ihnen aus seiner Praxis, aus der Praxis des täglichen Unterrichts, eine ganze Fülle konkrete Beispiele bringen, die ihn scheinbar rechtfertigen. Es gibt ein Stadium in der menschlichen Entwicklung, in dem alle Leitbilder gefährdet sind - ich denke an die Zeit der Pubertät im weiteste Sinne-, und Sie wissen, daß es manche Menschen gibt, bei denen sich diese Periode durch das ganze Leben hindurchzieht. Diese Leitbildergefährdung ist verbunden mit einer Leitbildsüchtigkeit, die nicht dadurch überwunden werden kann, daß man ein Fach Leitbilder anbietet, genausowenig wie die immanente Tendenz zum Nationalismus durch patriotische Reden aufgefangen werden kann. Es scheint mir wichtig, daß das Prinzip der Bewußtseinserhellung gerade diesem Alter gegenüber in der Erziehungspraxis angewandt wird. Es stellt sich dann nämlich heraus daß der Leitbildsüchtigkeit dieses Alters durchaus ein Aufklärungsbedürfnis parallelgeht - eine Tatsache, die allzu oft unterschlagen wird.

 

Adorno: Offenbar kommt es wieder einmal nicht zu einer Streitgespräch zwischen uns. Ich bin mit Ihnen d'accord; die Idee der Mündigkeit ist, wie es bei solchen Begriffen fast unvermeidlich scheint, selber noch viel zu abstrakt, und sie ist in eine Dialektik verstrickt. Diese muß man in den Gedanken und auch in die Praxis der Erziehung mit hineinnehmen. Die Fragen, die Sie aufgeworfen haben, gehören allesamt in eine Praxis, die Mündigkeit herstellen will. Ich denke vor allem an zwei schwierige Probleme, die man nicht übersehen darf, wenn es um Mündigkeit geht.

Zunächst, daß die Einrichtung der Welt, in der wir leben, und die herrschende Ideologie - die ja heute schon kaum mehr eine bestimmte Weltanschauung oder Theorie ist -, daß also die Einrichtung der Welt selbst unmittelbar zu ihrer eigenen Ideologie geworden ist. Sie übt einen so ungeheuren Druck auf die Menschen aus, daß er alle Erziehung überwiegt. Es wäre wirklich idealistisch im ideologischen Sinn, wollte man den Begriff der Mündigkeit verfechten, ohne daß man die unermeßliche Last der Verdunkelung des Bewußtseins durch das Bestehende mitaufnimmt.

Beim zweiten Problem dürften sich zwischen uns sehr subtile Unterscheidungen ergeben: bei dem der Anpassung. Mündigkeit bedeutet in gewisser Weise soviel wie Bewußtmachung, Rationalität. Rationalität ist aber immer wesentlich auch Realitätsprüfung, und diese involviert regelmäßig ein Moment von Anpassung.

Erziehung wäre ohnmächtig und ideologisch, wenn sie das Anpassungsziel ignorierte und die Menschen nicht darauf vorbereitete, in der Welt sich zurechtzufinden. Sie ist aber genauso fragwürdig, wenn sie dabei stehenbleibt und nichts anderes als well adjusted people produziert, wodurch sich der bestehende Zustand, und zwar gerade in seinem Schlechten, erst recht durch setzt. Insofern liegt im Begriff der Erziehung zu Bewußtsein und Rationalität von vornherein eine Doppelschlächtigkeit. Vielleicht ist sie im Bestehenden nicht zu bewältigen; jedenfalls dürfen wir ihr nicht ausweichen.

 

Becker: Wenn ich vorhin Bildung eine Ausstattung zum Verhalten in der Welt genannt habe, dann dachte ich an dieses dialektische Verhältnis. Natürlich ist die Fähigkeit zum Verhalten in der Welt nicht ohne Anpassungen an sie denkbar Gleichzeitig kommt es jedoch darauf an, das Individuum so auszustatten, daß es seine personalen Qualitäten behält. Anpassung darf nicht zum Verlust der Individualität in einem gleichmachenden Konformismus führen. Diese Aufgabe ist deshalb so kompliziert, weil wir von einem Bildungssystem loskommen müssen, das nur auf das Individuum bezogen war. Andererseits aber dürfen wir keine Erziehung zulassen, die nun ihrerseits glaubt, das Individuum ausschalten zu können. Und diese Aufgabe: gleichzeitig individualistische und gesellschaftliche Prinzipien, gleichzeitig - mit Schelsky gesprochen - Anpassung und Widerstand in der Erziehung zu vereinen, ist es, die dem Pädagogen herkömmlichen Stils so besondere Schwierigkeiten macht. Ich habe einmal, als ich vor jungen Lehrern über politische Bildung sprach, entwickelt, warum ich finde, daß derjenige, der zu Demokratie erziehen will, ihre Schwächen sehr deutlich machen muß. Das ist ein Beispiel für die Art, wie unsere Bildung notwendig ein dialektischer Vorgang ist, weil man die Demokratie nur leben und in der Demokratie nur leben kann, wenn man ihre Schwächen genauso realisiert wie ihre Stärken.

 

Adorno: Dazu möchte ich eine kleine geschichtliche Reflexion vorschlagen. Der Stellenwert der Erziehung zur Realität dürfte historisch wechseln. Trifft aber zu, was ich vorhin angedeutet habe: daß die Realität so übermächtig geworden ist, daß sie den Menschen sich von vornherein aufzwingt, so würde wohl jener Anpassungsprozeß heute eher automatisch besorgt. Erziehung durchs Elternhaus, soweit sie bewußt ist, durch die Schule, durch die Universität hätte in diesem Augenblick des allgegenwärtigen Konformismus vorweg eher die Aufgabe, Widerstand zu kräftigen, als Anpassung zu verstärken. Ich würde, wenn mich meine Beobachtung nicht täuscht, beinahe annehmen, daß bei jungen Menschen, vor allem auch bei Kindern, so etwas wie ein überwertiger Realismus - vielleicht sollte man sagen: Pseudorealismus - sich findet, der auf eine Narbe zurückdeutet. Dadurch, daß der Anpassungsprozeß so maßlos forciert wird von der gesamten Umwelt, in der die Menschen leben, müssen sie die Anpassung gleichsam sich selber schmerzhaft antun, den Realismus sich selbst gegenüber übertreiben und, mit Freud zu reden, sich mit dem Angreifer identifizieren. Die Kritik dieses überwertigen Realismus scheint mir eine der entscheidendsten Bildungsaufgaben, die allerdings wohl in der frühen Kindheit schon würde einsetzen müssen.

 

Becker: Sie reden von der frühen Kindheit. Nun wissen wir ja, daß sich schon das Ziel der Gleichheit der Bildungschancen nur verwirklichen läßt, wenn wir die Sprachbarriere in einer Zeit, die vor dem heutigen Schulpflichtbeginn liegt, beseitigen. Die Untersuchungen Basil Bernsteins und anderer haben das ja wirklich sehr deutlich gemacht. Demnach ist die informelle Erziehung in einem gewissen Sinn wichtiger als die formelle. Dennoch glaube ich, daß wir uns ernsthaft überlegen müssen, ob wir für die Altersstufen vom dritten bis zum fünften Lebensjahr nicht für weite Bevölkerungskreise Einrichtungen der formellen Erziehung schaffen müssen, weil nur dadurch diese soziale Startgleichheit gewährleistet ist.

Nun haben Sie aber hier auf eine andere Bedeutung der frühkindlichen Erziehung hingewiesen, nämlich darauf, daß sozusagen für das innere Verhalten, für das Realitätsbewußtsein, Entscheidungen in dieser frühen Kindheit fallen, die möglicherweise in frühen Gesellschaften unbewußt richtig gemacht worden sind. Ich will das hier einmal ganz offenlassen. Jedenfalls können sie heute von der Mehrzahl der Bevölkerung praktisch nicht ohne Bewußtsein richtig gemacht werden, so daß auch hier die Institutionen einer pre-school-education, Einrichtungen also einer vorschulischen Erziehung, mit einer klaren Konzeption in dieser Hinsicht ein greifen müssen.

Ich erwähne das deshalb, weil Deutschland ein Land ist, das zwar den Kindergarten erfunden hat und damit in der Welt berühmt geworden ist, Aber gerade weil der Kindergarten frühzeitig schon große Bedeutung hatte, ist er in Hinsicht auf diese neuen Aufgaben nicht verändert worden und ist ihnen heute nicht mehr gewachsen. Es scheint mir, daß die Aufgabe, ein Realitätsbewußtsein zu vermitteln, eine Aufgabe, die eng zusammenhängt mit der Frage des Verhältnisses von Theorie und Praxis, sozusagen nicht auf Universitätsniveau behandelt werden kann, sondern von der frühkindlichen Bildung an durch eine éducation permanente das ganze Leben hindurch geleistet werden muß. Nun ist gerade die Vorstellung einer Beziehungslosigkeit von Theorie und Praxis in der deutschen Geistesgeschichte so unglücklich fixiert, daß ganze Barrieren von früh an beiseite geräumt werden müssen, um hier in der Erziehung die Basis für ein richtiges Verhältnis von Theorie und Praxis zu errichten.

 

Adorno: Hier läge eine ganz konkrete Aufgabe für das, was Sie Bildungsforschung nennen. Ganz schlicht gesagt: man müßte einmal studieren, was die Kinder heute, wie man so sagt, nicht mehr mitbekommen: die unsagbare Verarmung des Bilderschatzes, des Schatzes an imagines, ohne die sie groß werden, die Verarmung der Sprache und des gesamten Ausdrucks. Ich hatte mir genau wie Sie vorgenommen zu diskutieren, ob die Schule diese Aufgabe nicht übernehmen kann. Man stößt da auf die merkwürdigsten Phänomene. Ich habe schon vor geraumer Zeit das Beispiel eines Kindes erlebt, das aus einer eminent musikalischen Familie stammte, selber sehr musikalisch war und sich für Musik sehr interessierte, das aber Werke, die in seinem Elternhaus selbstverständlich waren, etwa den Tristan, schon überhaupt nicht mehr kannte, obwohl solche künstlerische Erfahrung in seinem eigenen Milieu noch substantiell und gegenwärtig gewesen ist. Solche Sachverhalte müßte man einmal in den Blick bekommen. Was sich da aufs tiefste verändert, zumeist innerhalb der sogenannten bildungstragenden bürgerlichen Schicht, weiß man noch gar nicht. Außerdem ist daran zu erinnern, daß quantitativ heute Millionen von Menschen - zum Glück - in den Bildungsprozeß hineingezogen werden, die früher nicht an ihm teilhatten und die von vornherein wahrscheinlich eben das gar nicht mit bekommen können, wovon wir gesprochen haben.

Ich möchte dazu nur ganz leise anmelden, daß in dieser äußerst zarten und subtilen Schicht, die etwas mit der unwillkürlichen Erinnerung, überhaupt mit dem Moment des Unwillkürlichen zu tun hat, das Institutionelle, also: die Vergegenständlichung solcher Erfahrungsbereiche, große Schwierigkeiten hat. Wenn ich noch einmal vom Musikalischen reden darf: musikalische Erfahrungen in der frühen Kindheit macht man, wenn man im Schlafzimmer liegt, schlafen soll und mit weitaufgesperrten Ohren unerlaubt hört, wie im Musikzimmer eine Beethoven-Sonate für Klavier und Violine gespielt wird. Wird einem aber diese Erfahrung in einem schon gleichsam selber wieder geregelten Prozeß beigebracht, dann erhebt sich die Frage; ob er dieselbe Tiefe der Erfahrungsschicht erreicht. Ich möchte darüber jetzt nicht spekulieren, nur wenigstens auf einen neuralgischen Punkt aufmerksam machen.

 

Becker: Ich erinnere mich an ein Gespräch, bei dem ich einem damals vielleicht 12- oder 13jährigen Kind von mir die Prinzipien moderner Planung im politischen Bereich erläuterte. Dabei stellte es die Frage: »Wie plant ihr denn die Fehler?« Und so kommt es mir jetzt bei Ihnen vor, wenn Sie die Frage aufwerfen: »Wo bleibt eigentlich in diesem ganzen System das Spontane, das eigentlich Kreative?« Hier würde ich sagen, daß man sich dieses Faktors in der Erziehung auch wieder bewußt sein muß. Man kann nicht mehr melancholisch damit rechnen, daß die Beethoven-Sonate aus dem Nebenzimmer ertönt, sondern man muß damit rechnen, daß sie nicht ertönt.

Mir scheint es nötig, daß in der frühkindlichen Erziehung von Anfang an der Vorgang der Bewußtmachung neben dem Vorgang des Weckens des Spontanen steht, und es ist höchst interessant, daß die Methodik der amerikanischen pre-school-education viel phantasiereicher in der Erfindung von Methoden auf diesem Gebiet ist, einfach weil sie diese Not früher verspürt hat als wir. Der wohl bedeutendste polnische Pädagoge, Bogdan Suchodolski, hat kürzlich in einer Rede in Wien die Erziehung als »Vorbereitung zur ständigen Überwindung der Entfremdung« bezeichnet.

Ich finde, daß in dem geschilderten Vorgang der Berücksichtigung des Spontanen bei gleichzeitiger Bewußtmachung so etwas wie eben die Überwindung der Entfremdung sich vollzieht, und es scheint mir von hier aus nötig, die innere Strategie der einzelne" Unterrichtsfächer völlig neu zu überprüfen. Was ich damit meine, kann ich Ihnen am besten an einem Beispiel aus dem Gebiet der Mathematik verdeutlichen. Sie kennen die berühmte Geschichte von den Menschen, die mathematisch total unbegabt waren und immer "fünf" hatten, dafür aber in Philosophie und Latein angeblich »eins«. Heute wissen wir, daß diesem Sachverhalt ein Mathematikunterricht zugrunde liegt, der im Auswendiglernen von Formeln bestand, und zwar unter einer Zurückstellung der Axiomatik, während der moderne Mathematikunterricht, wie er zum Beispiel von der OECD entwickelt worden ist, und wie er hier in Westeuropa oder auch in der Sowjetunion erteilt wird, die Mathematik als Denkprinzip versteht. Als schöpferisches Denkprinzip kommt er schon in einem Alter zum Tragen, in dem die herkömmliche Unterrichtsmethode nur glaubte, einfach auswendiglernen lassen zu können. Ich könnte ganz ähnliche Dinge auch für andere Fächer entwickeln. Ich glaube, Sie würden mir wahrscheinlich besser als ich erklären können, wie zum Beispiel im Musikunterricht bei der Einführung in die moderne Musik sich der Vorgang der Bewußtmachung und der Vorgang der Spontaneität miteinander verbinden müßten.

 

Adorno: Dazu möchte ich einen gewissen Vorbehalt anmelden. Ich sträube mich nachgerade gegen die Inflation, die mit dem Begriff der Entfremdung eingerissen ist. Die sogenannten Entfremdungsphänomene gründen in der Gesellschaftsstruktur. Der tiefste Defekt, mit dem man es heute zu tun hat, ist der, daß die Menschen eigentlich gar nicht mehr zu Erfahrung fähig sind, sondern zwischen sich und das zu Erfahrende jene stereotypische Schicht dazwischenschieben, der man sich widersetzen muß. Ich denke dabei vor allem auch an die Rolle, die im Bewußtsein und Unbewußtsein, womöglich noch weit über ihre reale Funktion hinaus, die Technik spielt. Wirklich sinnvolle Erziehung zur Mündigkeit diesen Phänomenen gegenüber wäre von der tiefenpsychologischen Fragestellung nicht zu trennen.

 

Becker: Glauben Sie nicht, daß der Mangel an Erfahrung zum - Teil darin begründet ist, daß unsere Bildung zu stark historisiert war und daß man mit der Historisierung die unmittelbare Erfahrung der gegenwärtigen Realität über Bord geworfen hat, während es sich in Wirklichkeit darum handelt, mit einem richtigen historischen Bewußtsein auch eine richtige Ausrichtung der spontanen Erfahrung zu verbinden?

 

Adorno: Hier handelt es sich doch wohl nicht um ein spezifisch deutsches Phänomen, das mit dem Historismus zusammenhinge, sondern um ein weltweites. Offen bleibt nur: was ist das eigentlich, diese Nicht-Erfahrungsfähigkeit? Was geschieht da, was wenn irgend etwas, könnte zur Belebung der Fähigkeit, zu erfahren, geschehen?

 

Becker: Ich glaube, daß diese Frage der Nicht-Erfahrungsfähig keit sehr unmittelbar mit dem gestörten Verhältnis von Theorie und Praxis zusammenhängt.

 

Adorno: Vielleicht darf ich dabei zunächst auf eine psychodynamische Tatsache aufmerksam machen. Alle diese Dinge dürften nicht einfach ein Fehlen von Funktionen oder von Möglichkeiten sein. Sondern sie entspringen selber in einem Antagonismus zur Sphäre des Bewußtseins. Wahrscheinlich gibt es in ungezählten Menschen heute, zumal während der Pubertät, möglicher weise schon früher, etwas wie Bildungsfeindschaft. Sie möchten das Bewußtsein und die Last der primären Erfahrung abwerfen, weil sie es ihnen nur schwerer macht, sich zurechtzufinden. In der Pubertät tritt etwa der Typus auf, der sagt - wenn ich noch einmal auf Musik rekurrieren darf -: »Die Zeit der ernsten Musik ist vorbei: die Musik unserer Zeit ist der Jazz oder der Beat. Das ist keine primäre Erfahrung, sondern das ist, wenn ich den Nietzscheschen Ausdruck auch einmal verwenden darf, ein Ressentiment-Phänomen. Diese Menschen hassen das Differenzierte nicht Getypte, weil sie davon ausgeschlossen sind und weil es ihnen, ließen sie damit sich ein, die "Daseinsorientierung", wie Karl Jaspers sagen würde, erschwerte. Deshalb wählen sie sozusagen gegen sich selbst, mit zusammengebissenen Zähnen das, was sie eigentlich nicht wollen. Die Herstellung der Erfahrungsfähigkeit bestünde sehr wesentlich im Bewußtmachen und damit im Abbau dieser Verdrängungsmechanismen und Reaktionsbildungen, die in den Menschen selber ihre Erfahrungsfähigkeit verkrüppeln. Es geht also nicht einfach um die Absenz von Bildung, sondern um die Feindschaft dagegen, um die Rancune gegen das, was ihnen versagt ist. Sie wäre zu durchdringen, die Menschen zu dem zu bringen, was sie alle zuinnerst möchten. Sie haben vorhin sehr richtig gesagt, daß auch ein Bedürfnis nach Aufklärung vorhanden sei, und mindestens so stark wie das nach Leitbildern. Das hängt damit sehr zusammen. Das dürfte der entscheidende Aspekt dessen sein, wovon wir im Augenblick reden.

 

Becker: Ja, und ich würde sagen, daß diese Erfahrungsfähigkeit eigentlich eine Voraussetzung für die Steigerung des Reflexionsniveaus ist. Ohne Erfahrungsfähigkeit gibt es kein eigentlich qualifiziertes Reflexionsniveau.

 

Adorno: Hier stimme ich völlig mit Ihnen überein.

 

Becker: Und hier kommen wir nun zu einer interessanten Sache Die Aufgaben, die wir eben der Erziehung zugesprochen haben sind keineswegs mehr Angelegenheit irgendeiner höheren Bildung - vielmehr stellen sie sich eben auch in Bereichen, die, vor den herkömmlichen hierarchischen Bildungsvorstellungen her gesehen, weiter unten liegen. Gerade in der Berufsbildung etwa des Arbeiters sind eine gesteigerte Erfahrungsfähigkeit und ein erhöhtes Reflexionsniveau notwendig, um im ständigen Wechsel der Verhältnisse zu bestehen und das, was sie den »Druck der verwalteten Welt« genannt haben, auszuhalten.

Das, was wir hier jetzt besprechen, ist überhaupt nicht mit herkömmlichen Formeln auf das Gymnasium oder auf die Universität zu beziehen, sondern auf die Gesamtheit des Bildungswesens von der pre-school-education bis zur Erwachsenenbildung für alte Leute. In allen diesen Bildungsformen, auch in denen, die scheinbar so unmittelbar praktische Ziele haben wie Einzelheiten der Berufsausbildung, sind die Sachverhalte, die wir jetzt besprochen haben, gleichermaßen relevant.

 

Adorno: Ich glaube, das hängt sehr tief mit dem Begriff der Rationalität oder des Bewußtseins überhaupt zusammen. Man hat davon im allgemeinen einen viel zu engen Begriff, nämlich den der formalen Denkfähigkeit. Sie ist aber selber bereits eine Verengung der Intelligenz, ein Spezialfall der Intelligenz, dessen es gewiß bedarf. Das aber, was eigentlich Bewußtsein ausmacht, ist Denken in bezug auf Realität, auf Inhalt: die Beziehung zwischen den Denkformen und -strukturen des Subjekts und dem, was es nicht selber ist. Dieser tiefere Sinn von Bewußtsein oder Denkfähigkeit ist nicht einfach der formallogische Ablauf, sondern er stimmt wörtlich mit der Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, überein. Denken und geistige Erfahrungen machen, würde ich sagen, ist ein und dasselbe. Insofern sind Erziehung zur Erfahrung und Erziehung zur Mündigkeit, so, wie wir versucht haben, es auszuführen, miteinander identisch.

 

Becker: Und vor allem ist die Erziehung zur Erfahrung identisch mit der Erziehung zur Phantasie.

 

Adorno: Genau. Alle Bestrebungen der sogenannten realistischen Schulreform, etwa der Montessoribewegung, waren im Grunde phantasiefeindlich. Sie führen zu einer Verödung, sogar Verdummung, der man entgegenarbeiten muß, ohne daß man aber dabei nun wieder - die Dinge sind alle sehr kompliziert - in die verlogenen Fiktionen einer Märchentante geraten darf.

 

Becker: Wobei man jedoch bei allen solchen Institutionen wie Montessorischulen usw. vorsichtig sein muß, weil interessanterweise hier sich oft aus falscher Theorie richtige Praxis oder aus richtiger Theorie falsche Praxis ergeben hat. Es gehört gewissermaßen zu den Irrationalitäten der Pädagogik, daß wir entscheidende pädagogische Initiativen völlig falschen Theorien zu verdanken haben. Das hängt einfach damit zusammen, daß sich der Umschlag in die Praxis hier nicht so direkt vollzieht, wie wir das vielleicht der geschlossenen Systematik zuliebe gerne wollten.

 

Adorno: Ich möchte beiläufig darauf aufmerksam machen, daß wir in unserem Gespräch, ohne daß wir es wollten, eine gewisse Rechtfertigung erreicht haben für die relative Allgemeinheit, in der unsere Erwägungen sich bewegten: die Strukturen, von denen wir reden, werden als solche von der Gesamtgesellschaft vorgezeichnet, sind gar nicht so schichtenspezifisch, betreffen nicht so sehr spezifische Bildungsmittel, wie man denken könnte. Das dürfte aus unserer Diskussion hervorgetreten sein: sie trifft einer Bereich unterhalb der formalen Erziehung des Ichs. Ich möchte aber nun doch noch ein paar Worte über Individuation sagen. Sie haben von der Erziehung zum Individuum gesprochen, und sicher war der Anti-Individualismus, der die deutsche pädagogische Diskussion so lange beherrscht hat und der immer noch nachklingt, reaktionär, faschistoid. Man muß gegen den autoritären Anti-Individualismus angehen. Auf der anderen Seite aber dürfen wir es uns hier nicht so leicht machen. Man kann die Erziehung zum Individuum nicht postulieren. Es fehlen heute weitgehend soziale Möglichkeiten der Individuation, weil die allerrealsten, nämlich die Arbeitsprozesse, gar nicht mehr die spezifisch individuellen Eigenschaften erfordern.

 

Becker: Verzeihen Sie, wenn ich Sie unterbreche. Hier würde ich auch wieder zu einer gewissen Vorsicht raten, weil die Schnelligkeit des Wechsels im Arbeitsprozeß wieder neue Maße individuellen Verhaltens setzt. Im Grunde ist ja sozusagen die Fließbandsorge der Erzieher eigentlich schon ein pädagogisches Thema von vorgestern. Die Notwendigkeit immer neuer Umstellungen erfordert eine ganz bestimmte Art von neuen individuellen Einstellungen.

 

Adorno: Ja, aber es ist immer etwas anderes und dann doch immer wieder dasselbe. Ich fürchte, wir können das jetzt kaum mehr durchdiskutieren. Ich glaube indessen, man sollte die angebliche Individuation der Arbeit nicht überschätzen. Ich kann das nur gerade noch als These hinstellen.

 

Becker: Ich würde außerdem sagen, der ständige Wechsel in diesen Funktionen macht eine Art von Erziehung zum Bestehen und Bewältigen der Veränderungen erforderlich. Diese Erziehung zum Aushalten der ständigen Veränderungen ist das, was dem eine ganz neue Bedeutung gibt - neu gegenüber einer traditionellen Pädagogik, die das Individuelle fixiert und statisch dachte.

 

Adorno: Aber ich meine nun doch, die Gesellschaft setzt im allgemeinen heute auf Nichtindividuation eine Prämie; darauf, daß man mitmacht. Parallel dazu läuft jene innere Schwächung der Ich-Bildung, die der Psychologie längst unter der Ich Schwäche geläufig ist. Schließlich ist auch daran zu erinnern, daß das Individuum selber, also der stur auf dem Eigeninteresse beharrende Individuierte, sich selbst gewissermaßen als letztes Ziel betrachtende Mensch, auch etwas durchaus Problematisches ist. Geht also heute das Individuum zugrunde - ich bin ein alter Hegelianer, ich kann mir nicht helfen -, so wird auch dem Individuum gleichsam heimgezahlt, was es selber verübt hat.

 

Becher: Ja, aber wenn das Individuum zugrunde geht, geht auch die Gesellschaft zugrunde: das ist ja für den Hegelianer auch klar.

 

Adorno: Ich würde nur an eines erinnern: es gibt bei Goethe einen Satz, wo er von einem Künstler, mit dem er befreundet war, sagt, er habe »sich zur Originalität herangebildet«. Ich glaube, das gleiche gilt für das Problem des Individuums.

 

Ich würde nicht sagen, daß man den Menschen ihre Individualität erhalten kann. Sie ist gar nichts Vorgegebenes. Aber gerade in dem Prozeß der Erfahrung, den Goethe oder Hegel mit »Entäußerung« bezeichnet hätten, in der Erfahrung des Nicht-Ichs am Anderen, bildet sich vielleicht die Individualität.

Die Situation ist paradox. Eine Erziehung ohne Individuum ist unterdrückend, repressiv. Wenn man aber versucht, Individuen so heranzuziehen, wie man Pflanzen züchtet, die man mit Wasser begießt, dann hat das etwas Schimärisches und Ideologisches. Die Möglichkeit ist allein, all das in der Erziehung bewußt zu machen, also etwa, um noch einmal auf Anpassung zu kommen, anstelle der blinden Anpassung die sich selbst durchsichtige Konzession zu setzen dort, wo das unausweichlich ist, und auf jeden Fall anzugehen gegen das verschlampte Bewußtsein. Das Individuum, würde ich sagen, überlebt heute nur als Kraftzentrum des Widerstandes.

 

Becker: Können wir damit einverstanden sein, daß wir den Menschen zu seiner Individualität und zugleich zu seiner Funktion in der Gesellschaft bilden?

 

Adorno: Formal ist das natürlich sehr einleuchtend. Ich glaube nur, daß in der Welt, in der wir leben, die beiden Ziele nicht miteinander zu vereinen sind. Die Idee einer Art von Harmonie, wie sie noch Humboldt vorgeschwebt hat, zwischen dem gesellschaftlich funktionierenden und dem in sich ausgebildeten Menschen ist nicht mehr zu erreichen.


Becker: Nein, es geht darum, daß man diese Spannungen aushalten muß, Spannungen, die unauflösbar sind wie das Verhältnis von Theorie und Praxis, das im Mittelpunkt unserer modernen Erziehung steht.


Adorno: Aber dann muß die Erziehung auch auf diesen Bruch hinarbeiten und diesen Bruch selber bewußt machen, anstatt ihn zuzuschmieren und irgendwelche Ganzheitsideale oder ähnlichen Zinnober zu vertreten.

Th. W. Adorno, "Erziehung - wozu?" (1966), in: ders, Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959-1969. Hrsg. von Gerd Kadelbach. Frankfurt am Main 1971, S. 105-119.

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